von der AIBJ-Redaktion
Der Erste Mai bedeutet heute je nach Perspektive die unterschiedlichsten Dinge: Ausflugstag für Spießer-Familien, Tag der Arbeit bei den DGB-Gewerkschaften, Kampftag der Arbeiterklasse mit Proletkitsch bei autoritären Kommies oder einigen Anarchosyndikalist_innen, Nationaler Tag der Arbeit bei den Nazis und ein weiterer Aktionstag für die Antifa. Was sich vor ca. 150 Jahren um den Ersten Mai herum ereignete, ist heute kaum noch bekannt. Wir wollen zeigen, dass der Erste Mai ursprünglich mit Spießer_innen, Sozialdemokrat_innen, Roten und Nazis gar nichts, dafür aber mit Arbeiter_innenmilitanz und Anarchismus sehr viel zu tun hatte.
Arbeiter_innenbewegung und Anarchismus in den USA
Nach dem Ende des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 kam es in den USA zu einem krassen industriellen Wachstum und einer massiven Einwanderung von Arbeiter_innen aus ganz Europa. Gleichzeitig bildete sich im Proletariat, v.a. unter den migrantischen Arbeiter_innen, eine radikale Bewegung. Diese begann, sich über Arbeiter_innenkämpfe und Streiks gegen die Ausbeutung zu wehren und für die gesellschaftliche Revolution einzusetzen. Der US-amerikanische Staat und das Industriekapital gingen gegen die rebellischen Arbeiter_innen vor. Polizei, Milizen und Truppen unterdrückten die Arbeiter_innenkämpfe, oft genug bewaffnet, und viele Arbeiter_innen starben während Streiks und auf Streikposten. So kam es 1877 zum „Great Railroad Strike“, einem unkontrollierten Streik und Aufstand, in dessen Verlauf um die 100.000 Eisenbahn-Arbeiter_innen 45 Tage lang streikten, sabotierten und revoltierten. Staatliche und private Milizen und Truppen schlugen den Aufstand letztlich nieder. Dabei starben um die 100 Arbeiter_innen.
In der Zeit, also in den 1870er und 1880er Jahren, radikalisierten sich viele Arbeiter_innen. Innerhalb der „Socialist Labor Party“ (SLP) kam es dabei zu einem Konflikt zwischen dem sozialistischen und anarchistischen Flügel. Während die Sozialist_innen und die Führungsriege Wahlkampf und politische Kampagnen priorisierten, sprachen sich die Anarchist_innen für die Selbstbewaffnung und den Selbstschutz der Arbeiter_innen in „Lehr- und Wehr-Vereinen“ und eine revolutionäre Perspektive aus. Hier spielten die zahlreichen deutschen Arbeiter_innen eine wichtige Rolle, die wegen der Bismarckschen Sozialistengesetze in die USA ausgewandert waren.
Während eines Parteikongresses 1881 spalteten sich die Anarchist_innen von der SLP ab und gründeten den „Social Revolutionary Club“ mit Zweigstellen in vielen Städten. 1883 taten sich der „Social Revolutionary Club“ und andere anarchistische Gruppierungen auf einem anarchistischen Kongress in Pittsburgh zusammen und gründeten die „International Working People’s Association“ (IWPA). Sie verstanden sich als Teil der 1881 in London gegründeten anarchistischen „Schwarzen Internationale“, d.h. des Versuchs der Reorganisation der internationalen anarchistischen Bewegung nach ihren Rausschmiss aus der Ersten Internationale auf Betreiben der Fraktion um Marx. Innerhalb der IWPA gab es zwei Strömungen. Die erste um den deutschen Emigranten Johann Most vertrat das Konzept der „Propaganda der Tat“ und verteidigte individuelle bewaffnete Aktionen gegen das Kapital und den Staat. Die andere Strömung um den Anglo-Amerikaner Albert Parsons und deutschen Emigranten August Spies verfolgte die massenhafte Organisierung der Arbeiter_innen in Gewerkschaften und nahm mit der sogenannte „Chicago-Linie“ den revolutionären und Anarchosyndikalismus der 1900er Jahre vorweg.
Chicago war in dieser Zeit das Zentrum der militanten Arbeiter_innenbewegung. Deutsche Arbeiter_innen bauten hier schon 1875 eine erste Selbstschutzmiliz auf, die bald 500 Mitglieder verschiedener Nationalitäten zählte. Innerhalb der Chicagoer Arbeiter_innenklasse wurde die anarchistische IWPA schnell zur treibenden Kraft. Sie hatte Tausende Mitglieder, gab fünf Zeitungen in verschiedenen Sprachen heraus und nahm im Kampf um den Achtstundentag eine führende Rolle ein.
Der Kampf um den Achtstundentag
Der Achtstundentag war eine der ältesten Forderungen der Arbeiter_innenbewegung. Schon in den 1830ern wurde sie von der englischen Gewerkschafts- und Kooperativ-Bewegung formuliert. In den 1880ern bahnte sich in den USA eine koordinierte Kampagne zur Erkämpfung des Achtstundentags an. 1884 erklärte die US-amerikanische Gewerkschaftsföderation, dass ab dem 1. Mai 1886 der Achtstundentag zu gelten habe. Damit war klar, dass es ab dem 1. Mai 1886 zu einem Generalstreik und Protesten kommen würde. Nach langen Zögern schlossen sich auch die Anarchist_innen der IWPA der Kampagne an.
Am 1. Mai 1886 streikten rund 200.000 bis 350.000 Arbeiter_innen in den ganzen USA für den Achtstundentag. In vielen Orten und Branchen wurde die Forderung sofort durchgesetzt.
Die Ereignisse in Chicago
Chicago war auch während der Kampagne für den Achtstundentag der Mittelpunkt. Eine Woche vor Beginn des Streiks kommt es zu einer Demo mit 25.000 Teilnehmer_innen. Am 1. Mai 1886 nehmen 80.000 Arbeiter_innen an der Generalstreiksdemo teil. In vielen Branchen geben die Chefs nach und führen den Achtstundentag ein. In einer McCormick-Fabrik zieht sich der Streik hin. Am 3. Mai 1886 hält August Spies nicht weit von der Fabrik entfernt eine Rede vor ca. 6000 Arbeiter_innen. In dem Moment beginnen die streikenden McCormick-Arbeiter_innen Auseinandersetzungen mit den Streikbrecher_innen und die Kundgebung inklusive August Spies kommen ihnen zu Hilfe. Die Polizei schreitet ein und erschießt vier Arbeiter_innen. Unmittelbar darauf schreibt, druckt und verbreitet Spies ein Flugblatt, in dem er die Arbeiter_innen aufruft, am nächsten Tag bewaffnet zu einer Protestversammlung auf den Chicagoer Haymarket zu kommen.
Die Kundgebung am nächsten Tag verläuft zunächst friedlich. Um die 3000 Arbeiter_innen haben sich versammelt. Parsons, Spies und andere halten Reden. Kurz vor Ende erscheinen 180 Polizisten und ordnen die Auflösung der Versammlung an. In dem Moment wird eine Bombe auf die Polizei geworfen. Ein Polizist stirbt an Ort und Stelle, 22 werden verletzt, von denen 5 später ihren Wunden erliegen. Es kommt zu Schießereien, in deren Verlauf Dutzende von Demonstrant_innen verletzt werden und drei sterben. Dass es bei Streiks und Protesten zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt und Arbeiter_innen sterben war an sich erstmal nichts Neues für die USA. Dieses Mal waren aber zum ersten Mal auch Bullen draufgegangen. Entsprechend begann der Staat eine umfangreiche Repressionskampagne gegen die anarchistischen Arbeiter_innenorganisationen, eine erste „Red Scare“ (Rote Angst).
Jagd auf die Anarchist_innen und Solidaritätskampagne
Nach den Ereignissen vom Haymarket begann eine achtwöchige Repressionswelle. Es gab unzählige Hausdurchsuchungen und Hunderte von Festnahmen. Von allen Inhaftierten wurden acht Anarchisten angeklagt: August Spies, Albert Parsons und Samuel Fielden aufgrund ihrer Beteiligung als Redner bei der Versammlung vom 4. Mai, Michael Schwab und Adolph Fischer aufgrund ihrer Mitarbeit bei Spies’ Arbeiterzeitung, Oscar Neebe als Mitherausgeber der Arbeiterzeitung und zwei weitere Arbeiter, Louis Lingg und George Engel, die für ihre militante Haltung bekannt waren. Fünf von ihnen waren deutsche Arbeitsmigranten, die Meisten von ihnen waren Mitglieder der IWPA.
In einem Prozess im Sommer 1886 wurden sieben der acht Angeklagten zum Tod durch Erhängung verurteilt, Neebe zu 15 Jahren Haft. Alle hielten am Ende des Prozesses leidenschaftliche Reden, die es im Internet nachzulesen gibt. Nach der Revision wurde die Todesstrafe von Fielden und Schwab zu lebenslänglich umgewandelt.
Nach dem Urteil bildete sich eine breite Solidaritätsbewegung mit der Forderung nach Amnestie, an der sich neben Anarchist_innen, Gewerkschafter_innen und Sozialist_innen auch Intellektuelle und Politiker_innen aus den USA und international beteiligten. Lucy Parsons, schwarze Arbeiterin, Anarchistin und IWPA-Aktivistin, organisierte die Solidaritätskampagne für die Angeklagten und hielt Reden im ganzen Land. Auch die Socialist Labor Party organisierte und finanzierte eine Vortragsfahrt von Wilhelm Knecht, Eleanor Marx und ihrem Mann Edward Aveling durch die USA.
Trotz aller Solidarität wurden die zum Tode Verurteilten im November 1887 hingerichtet. Engel, Fischer, Parsons und Spies wurden gehängt. Sie standen bis zum Ende zu ihren Überzeugungen. Nachdem sich die Falltür unter ihren Füßen öffnete, brach es ihnen nicht das Genick, sondern es dauerte mehrere Minuten, bis sie erstickten. Lingg entzog sich dem, indem er sich einen Tag vor der Hinrichtung in seiner Zelle selbst umbrachte. Er steckte sich einen Sprengzünder in den Mund und löste ihn aus. Die Explosion riss die Hälfte seines Gesichts weg. Er lag sechs Stunden in Qualen, bis er starb.
Zerschlagung der Arbeiter_innenbewegung in den USA
Die Ereignisse von Chicago von 1886 waren ein schwerer Schlag, vor allem für die anarchistische Bewegung. Die Auseinandersetzung zwischen Staat und Arbeiter_innen sollte sich aber erst vierzig Jahre später entscheiden. Bis in die 20er Jahre kam es immer wieder zu beeindruckenden Streiks und Massenkämpfen und entstanden neue revolutionäre Organisationen. So gründete sich 1905 die revolutionäre Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) und so kämpften 1921 während der Schlacht vom Blair Mountain, dem größten bewaffneten Arbeiter_innenaufstand in der Geschichte der USA, 10.000 bewaffnete Minenarbeiter_innen in West Virginia fünf Tage lang gegen 3000 Polizisten, Soldaten und Streikbrecher. Erst nach der Russischen Revolution und der großen „red scare“, d.h. der Angst, die Revolution könne sich auch in die USA ausbreiten, gelang es dem US-amerikanischen Staat in den 20er und 30er Jahren die revolutionäre Arbeiter_innenbewegung zu zerschlagen. In diesem Kontext fand 1927 auch die bekannte Hinrichtung der italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti statt.
Vereinnahmung und Ritualisierung des Ersten Mai
1889, nur drei Jahre nach den Ereignissen vom Haymarket und zwei Jahre nach der Hinrichtung der Anarchisten, errichtete die Stadt Chicago ein Denkmal – für die umgekommenen Polizisten. Das Denkmal wurde in den folgenden Jahren immer wieder angegriffen, beschädigt, von einem aufgebrachten Autofahrer umgefahren und entsprechend mehrfach verlegt. 1969 jagte die bewaffnete Gruppe „The Weather Underground“ das Denkmal in die Luft. Nachdem es 1970 wieder aufgebaut wurde, sprengte es der Weather Underground noch einmal. Es wurde ein zweites Mal neugebaut, aber seitdem in Einrichtungen der Polizei versteckt.
Beim Gründungskongress der Zweiten Internationale, des sozialdemokratischen Folgeprojekts der Ersten Internationale, von 1889 wurde der Erste Mai in Gedenken an die Opfer der Haymarket-Ereignisse zum Kampftag der Arbeiterbewegung erklärt. 1890 wurde er zum ersten Mal international begangen. In den folgenden Jahrzehnten haben sich die verschiedensten politischen Bewegungen und Systeme den Ersten Mai angeeignet. Die Nationalsozialisten erklärten den Ersten Mai 1933 zum Tag der nationalen Arbeit und gesetzlichen Feiertag und zerschlugen kurz daraufhin die Gewerkschaften. Nach dem Krieg blieb der Erste Mai sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR ein Feiertag. In der DDR fanden anlässlich des Ersten Mai jährlich staatlich organisierte und inszenierte Massendemos statt.
Für Viele ist der Erste Mai heute ein freier Tag. Man macht einen Ausflug oder geht zu einem der alternativen Festivals wie z.B. dem Stadtteilfest auf dem Jahnplatz in Jena- West. Daneben gibt es in einigen Städten zahnlose DGB-Kundgebungen mit Bratwurststand oder Polit-Events wie die sogenannte revolutionäre Erste-Mai-Demo in Berlin.
Hier in Thüringen werden dieses Jahr wohl viele von uns wieder einmal den Nazis hinterherfahren. Ansonsten macht die FAU mit einer Arbeitskampfdemo am 30. April in Jena den Versuch, den Tag zu nutzen, um auf konkrete Arbeitskonflikte in der Stadt hinzuweisen. Und wir als Infoblatt haben die Gelegenheit genutzt, um über ein Kapitel aus der Geschichte, der radikalen Arbeiter_innenbewegung und des Anarchismus in den USA zu sprechen, das den Ausgangspunkt für den Ersten Mai bildet. Darüber hinaus trifft hier zu, was auch für andere Gedenk- oder Kampftage gilt: Jeder Tag ist Erster Mai! Tragen wir den Klassenkampf in unseren Alltag!
Zum Weiterlesen und -hören
Der deutsche Anarchist und Schriftsteller Horst Karasek hat 1975 das Buch „Haymarket“ zur Geschichte der deutschen Anarchisten in Chicago Ende des 19. Jh.s rausgegeben.
Knapp zehn Jahre später, 1984, hat auch der US-amerikanische Historiker Paul Avrich einen Band zu den Ereignissen vom Haymarket rausgebracht: „Haymarket Tragedy“.
Auf der Seite des Lucy Parsons Project gibt es mehr Infos plus Links zur Arbeiter_innenbewegung in den USA, den Ereignissen auf dem Haymarket, den Reden der Angeklagten etc.
Das anarchistische Netzwerk Crimethinc aus den USA hat die erste Ausgabe ihres Internetpodcasts der Geschichte des Ersten Mai gewidmet
Auf der Seite prole.info findet sich ein Zine mit Ausschnitten aus Louis Adamics Text „Dynamite. The Story of Class Violence in America“ von 1930.