Anarchie und Utopie

von Jens Störfried

 

Die schönste Utopie ist, als herr­schafts­freie Gesellschaft, die Anarchie. Doch wie soll bitteschön eine Gesellschaft aussehen, die komplett ohne Herrschaft gestaltet ist? Ist das nicht lediglich eine hoh­le Phrase? Und noch viel span­nen­der: Wie soll diese Vorstellung ver­wirk­licht werden, wenn wir rea­lis­tisch bleiben und von der Welt aus­gehen, wie wir sie heute vor­fin­den?

In der anarchistischen Szene be­steht mittlerweile weitestgehend ein Konsens wie in der Kritischen Theorie oder der jüdischen Religion, nach dem Motto: Du sollst dir kein Bild­nis von der kommenden („be­freiten“) Gesellschaft machen. Ganz im Gegensatz zu den oft sehr plat­ten Verleumdungen – ins­be­son­dere von Marxist_innen – ist es also kei­nes­wegs so, dass Anarchist_­in­nen sich irgendwelche Traum­schlös­ser bau­en würden um dann völlig blauäugig die Unzu­läng­lich­keit der vor­findlichen Gesellschaft an dem utopischen Ideal einer „erlösten“ Ge­sellschaft zu messen, in welcher alle Antagonismen auf­ge­hoben wä­ren. Im Gegenteil betonen Anar­chist_­innen, das Han­deln im Hier und Jetzt, welches sie allerdings oft­mals an von ihnen selbst gesetzten Idealen messen von denen sie sich auch inspirieren lassen.

Dennoch spielt die Utopie im anar­chis­tischen Denken eine bedeu­ten­de Rolle, wie das übrigens auch bei anderen sozialistischen Strö­mung­en – auch dem angeblich wis­sen­schaftlichen Sozialismus – der Fall ist. Im Grunde genommen richten sich alle politischen Welt­vor­stel­lung­en und Projekte nach idealen Vor­stellungen aus, die sie antreiben und verwirklichen wollen. Die ei­gent­lich interessante Frage ist da­rum, was anarchistische Vor­stel­lungen von Utopien sind oder was ein anarchistischer Umgang mit diesen ist.

Utopien an sich sind ja keineswegs anar­chistisch. In der Geschichte könnten grob auto­ri­tä­re/staats­tra­gen­de Utopien von anti­autoritä­ren/ staa­tenlosen Utopien unter­schie­den werden. So wollten beispiels­wei­se Platon, Thomas Morus oder Henri de Saint-Simon mit ihren utopischen Entwürfen auf ver­schie­dene Weisen einen ihrer Ansicht nach perfekten und totalen Staat etab­lieren. Alles sollte dort wun­der­bar geordnet und geregelt zu­gehen und nach einem perfekten Plan sollten Menschen möglichst per­fekt in die jeweilige Gesell­schafts­vorstellung rein gezwungen wer­den. Weil derartige Entwürfe not­wendigerweise scheitern müssen und auf totalitäre Vor­stel­lung­en hinauslaufen, wie sich auch in den politischen Systemen des 20. Jahrhunderts auf katastrophale Weise zeigte, entstanden eine gan­ze Reihe von Dystopien, welche der­artige utopische Vorstellungen kri­ti­sieren. So zum Beispiel der Romane „1984“ von George Orwell oder „Brave New World“ von Aldous Huxley.

Diese grundsätzliche Skepsis gegen­über „perfekten“ Entwürfen von besseren Gesellschaften finden sich eindeutig im anarchistischen Denken wieder, weswegen gesagt werden könnte, dass Anarchist_­in­nen sozusagen „anti-utopisch“ ein­gestellt sind. Wenn jemand auftritt und wieder einmal behauptet nun die letztendliche Lösung für alle ge­sell­schaftlichen Probleme zu haben, wer­den sie hellhörig und vermuten erst einmal, dass diese Person Men­schen ihre spezifischen Vor­stel­lung­en – so schön sie auch klingen mö­gen – aufdrücken will und es sich so­mit um eine neue Form von Herr­schaft handelt, die erfahrungs­gemäß fast immer noch krasser ist, als die Herrschaftssysteme zuvor.

Derartige gefährliche utopische Vor­stellungen finden sich bei­spiels­weise ganz aktuell in der weltweiten Bewegung des so­ge­nann­ten Transhumanismus. Trans­hu­ma­nist_innen wollen die Be­gren­zungen des biologischen Menschen überwinden und ihn mit Techniken ver­schmelzen, um seine Schwä­chen abzubauen, seine Fähigkeiten zu steigern und letztendlich das menschliche Grundproblem, die Sterblichkeit, aus der Welt schaffen oder zumindest stark verzögern. Es handelt sich hierbei nicht einfach um Science-Fiction-Freaks (die, nebenbei bemerkt, teilweise sehr gesellschaftskritisch eingestellt sind wie der Autor Stanislaw Lew), son­dern um einen Trend der sich bei zahl­reichen Hirnforschern, Gen- und Bio­technologen, Medizinern, Generälen und Konzernmanagern gro­ßer Beliebtheit erfreut. Logi­scherweise geht es diesen oftmals darum, einfach bessere Soldat_­in­nen, Arbeiter_­innen oder auch Sportler_innen herzustellen, die in verschiedenen Bereichen mehr Leistung erbringen können. Dies hat aber eine unmittelbare ideolo­gische Dimension, welche einer­seits mit der Leistungsideologie des Kapi­talismus verbunden ist. An­der­er­seits nährt sie sich aber von der alten Utopie des Menschen, dass alle Leiden und alle Unzu­läng­lich­keiten im Leben überwunden werden könnten – und zwar nicht erst in einem entfernten Jenseits, in welche sie das Christentum ver­bannte, sondern in der Welt wie sie hier und heute ist. Die Probleme dieser Denkweise fallen klar ins Auge: Anstatt das Leiden und die Un­zulänglichkeit von Menschen damit zu erklären, dass wir in einer hie­rarchischen Gesellschaft leben, die von Ausbeutung, Unterdrückung und Naturzerstörung geprägt ist, was zu weiten Teilen auf das Herrschaftssystem zurückzuführen ist, in dem wir leben müssen, wird einfach behauptet, der Mensch „an sich“ wäre nun mal unzulänglich und leide. Und dieses Problem ließe sich dann angeblich damit lösen, dass er sein Bewusstsein in einen digitalen Speicher uploaden oder seine Gliedmaßen auswechseln könn­te. Herrschaft als Ursache von Lei­den wird somit durch die trans­humanistische Utopie verschleiert und in eine wesentlich totalitärere Gesellschaftsvorstellung überführt, in denen die Segnungen des tech­nischen Fortschritts lediglich denen zu­kommen, die sie sich leisten können. Nicht umsonst ist die transhumanistische Utopie mit der stark faschistischen Künster_innen-Bewegung des „Futurismus“ Anfang des 20. Jahrhunderts verwandt…

Es gibt also genug Grund zur Skepsis gegenüber utopischen Vorstellungen. Gleichzeitig speist sich anarchistisches Denken den­noch aus utopischen Denken und das Ideal der Anarchie soll ja wirk­lich als Vorstellung einer besseren Gesellschaft und Fluchtlinie zu dieser gedacht und nicht auf irgendeine „private“, zwischen­men­schliche Haltung oder grundlosen Ak­tionismus reduziert werden. Wenn Anarchismus nicht nur eine Ansammlung verschiedener Le­bens­stile darstellt, sondern eine poli­tische Bewegung ist, die Projek­te für die gesamte Gesellschaft entwickeln möchte, dann ist der Rückgriff auf utopische Erzählungen sogar zum Teil notwendig. Denn um etwas grundsätzlich zu verändern; um etwas verwirklichen zu wollen, was noch nicht besteht, ist erst mal der schwierige Schritt notwendig, sich gedanklich von dem was besteht zu lösen und eine andere Welt vorstellbar zu machen. Diese Vor­stellungen müssen aber nicht reine Spinnerei sein, sondern können sich ja durchaus von dem ableiten, was wir um uns herum wahrnehmen. Da gibt es sicherlich Dinge, die unserer Ansicht nach einfach nicht sein sollen und abzu­schaffen wären; gleichzeitig aber auch welche, die sich zu erhalten und weiter zu entwickeln lohnen.

Beispielsweise ist die Pflege von Alten, Kranken und auf irgendeine Weise sonst dauerhafter Hilfe be­dürf­tigen Menschen in der beste­hen­den Gesellschaft notwendig und sinnvoll, wie sie es ebenfalls in einer kommenden besseren Gesellschaft wäre. Utopisches Den­ken würde nun davon ausgehen, dass eine Gesellschaft möglich ist, in der alle Menschen, die irgend­ei­ner Hilfe und Zuwendung bedürfen (was ja letztendlich im Grunde genommen alle angeht), diese kos­tenlos, ohne Gegenleistung und in jedem Fall erhalten können. In einer staat­lich-kapitalistischen Gesell­schaft kann dies niemals realisiert werden, weil die Hilfeleistungen an Menschen an ihren bisherigen Leistungen, ihrer Arbeitsfähigkeit oder ihrer Funktion als Bür­ger_­innen bemessen wird.

Hieran andere Maßstäbe an­zu­le­gen, andere Umgangsformen zu ent­wickeln und zu leben, ist im anarchistischen Verständnis bereits eine Form gelebter Utopie. Denn Vor­stellungen, wie eine bessere Gesellschaft sein soll, werden bereits jetzt konkret von einzelnen Menschen praktiziert ohne darauf zu warten, dass „die Revolution“ kommt, nach welcher das dann angeblich möglich sei. Nun ist es im­mer gut, wenn Einzelne anfangen, nach anarchistischen Idealen zu handeln und die Ver­hält­nisse, angefangen bei ihrer Um­ge­bung, verändern zu wollen. Damit grundlegende gesellschaftliche Veränderungen möglich werden, ist es jedoch auch notwendig, dass uto­pisches und strategisches Den­ken zusammen kommen und viele Men­schen gemeinsam Visionen einer besseren Gesellschaft ent­wic­keln, wozu unser durch das Bestehende eingeschränkte Vor­stellungsvermögen irritiert, in­spi­riert und erweitert werden muss.

Gerade weil Utopien nur vom be­ste­henden Zustand und den damit verbundenen Bewusstseinsformen gedacht werden, können sie nie vollständig verwirklicht werden. Wenn sich grundlegende Ver­än­der­ungen ereignen entstehen Visionen und Utopien, wie die Gesellschaft in eman­zipatorischer Hinsicht besser sein könnte oder sein sollte. Diese Vorstellungen werden wiederum Men­­schen inspirieren und moti­vie­ren, etwas anderes zu versuchen und zu wagen, wodurch sie ihren Mög­lichkeiten nach konkret die Gesell­schaft zu verändern begin­nen. Und erst auf dem Weg zur Veränderung zeigt sich, was an der utopischen Vorstellung gut und sinn­voll war und sich zum mo­men­tanen Zeitpunkt realisieren lässt. In­sofern ist es überhaupt nicht schlimm, dass Utopien nun mal nie voll­ständig verwirklicht werden können. Wenn sie skeptisch betrachtet und genau überprüft werden, wenn ihre Entstehung im Kontext einer durch Herrschaft geprägten Gesellschaft verstanden wird, können Utopien zum Aus­gangs­punkt genommen werden, um Dinge konkret zu verändern. Uto­pische Vorstellungen sollten dazu dienen, die Möglichkeiten radikaler Gesellschaftsveränderung zu sehen und zu erweitern.