Wie aus Misshandelten Täter/innen gemacht wurden. Ein Lehrstück des Polizeistaats von einem Mitglied der Soligruppe Weimar im April.
Was geschah am 19.4.2012?
Gegen zwei Uhr morgens stoppen zwei Polizeiwagen eine Gruppe von vier Personen kurz vor deren Haustür. Die Beamt/innen wollen alle vier zur Identitätsfeststellung auf die Wache bringen, ohne Gründe für diese Maßnahme zu nennen. Eine der betroffenen Personen wird dafür zu Boden geworfen und unter Schlägen in den Dienstwagen gezwungen. Auf der Wache müssen sich alle vier nackt ausziehen und einer «Nachschau» in ihre Körperöffnungen unterziehen. Piercings werden gewaltsam entfernt und von den männlich gelesenen Personen werden Fotos gemacht, wobei sie handgemalte Schilder mit ihren Namen und Daten halten müssen. Danach kommen sie für zehn Stunden in Einzelzellen in Gewahrsam. Die ganze Nacht über tauchen immer wieder Beamte vor und in der Zelle einer der weiblich gelesenen Personen auf. Aufgrund ihres Namens wird sie rassistisch beleidigt mit u.a.: «Dir geht es noch viel zu gut in Deutschland!» oder «Ein Wunder, dass du die Regelschule geschafft hast bei deinem mickrigen Hirn!». Sie wird bedroht mit den Worten «Wir kriegen euch klein (…) Ihr werdet euch wünschen, niemals geboren worden zu sein!». Die Polizisten machen auch Anspielungen auf zwei Weimarer/innen, A. und F., die sich 2010 das Leben nahmen. Die beiden wurden im Rahmen der polizeilichen und öffentlichen Hetzjagd nach dem «Feuerteufel», der/die vermeintlich für Containerbrände zwischen 2006 und 2009 verantwortlich wäre, ständig in der Stadt von der Polizei schikaniert, angezeigt, mit Hausdurchsuchungen und Untersuchungshaft terrorisiert. In der Nacht vom 19.4.2012 drohen Beamte der einen Inhaftierten, dass es ihr ergehen würde wie A. und F. Als die Inhaftierte auf Toilette gehen will, hält gar ein Beamter seinen eigenen übergriffigen Kollegen davon ab, ihr zu folgen. Als die Beamten später wieder die Zelle betreten und die Betroffene verbal protestiert, werden ihre Oberarme rücklings gefesselt und sie wird über den Zellenboden geschleift, wobei sie Wunden im Gesicht und eine offene Wunde über den ganzen Unterarm erleidet. Die Wunden bleiben unversorgt. Gegen 9.30 Uhr werden die vier Personen einzeln verhört. Erst in den morgendlichen Vernehmungen werden ihnen die Vorwürfe aus der Nacht genannt: Eingriffe in den Straßenverkehr, Graffiti und Widerstand gegen ihre Festnahme. Diejenige Person, die nachts massiv misshandelt wurde, wird hingegen vom Staatsschutzbeamten Vaskulat zu völlig anderen Vorwürfen vernommen, die mit der vergangenen Nacht gar nichts zu tun hatten. Gegen Mittag werden dann alle entlassen.
Die «Ermittlungen» von LKA und Staatsanwaltschaft
Als in den Folgetagen ein Artikel zu diesem Gewaltexzess der Weimarer Polizei auf Indymedia erschien, leitete der Leiter der Polizeiinspektion, Ralf Kirsten, Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt ein. Die Betroffenen wurden als Zeug/innen vorgeladen. Sie entschieden sich trotz aller Zweifel dazu, die verantwortlichen Beamt/innen nicht nur in detaillierten Aussagen zu belasten, sondern auch Strafantrag zu stellen. Im selben Zeitraum gründete sich die Solidaritätsgruppe «Weimar im April», die die Betroffenen unterstützen und Öffentlichkeit rund um Polizeigewalt in Weimar herstellen wollte. Alle in der Nacht diensthabenden Beamt/innen wurden von einer LKA-Beamtin für interne Ermittlungen vernommen. In diesem Rahmen machte die Beamtin auch ein «Experiment», indem sie sich entsprechend der Schilderung der Betroffenen Handschellen an die Oberarme anlegen ließ. Völlig ungeachtet der Unterschiede in Körpergröße, Armumfang uvm. schloss sie daraus, dass die Fesselung dieser Art nicht möglich wäre. Natürlich hatte keine/r der Beamt/innen überhaupt etwas von den Beleidigungen, der Schikane und der Gewalt gesehen oder gehört. Es kam, wie es kommen musste: Bald wurden die Ermittlungen gegen alle Polizist/innen eingestellt und drei der vier Betroffenen erhielten Strafbefehle; zwei wegen «Falscher Verdächtigung» und die Hauptbetroffene wegen «Vortäuschens einer Straftat» und «Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte». Das Verfahren wegen Widerstand wurde getrennt geführt. Vor dem Amtsgericht wurde die Betroffene verurteilt. In der Berufungsverhandlung wurde dann das Verfahren zugunsten einer mittelmäßig hohen Zahlungsauflage eingestellt, wobei die Betroffene zusätzlich die Gerichtskosten und ihre Anwält/innenkosten zu tragen hatte.
Der Prozess
Im März 2015 begann der Prozess gegen drei Betroffene wegen «Falscher Verdächtigung» und «Vortäuschens einer Straftat». «Weimar im April» hatte bereits vorher eine Ausstellung zu Polizeigewalt im Weimarer Lichthaus organisiert. Dies stieß der Polizei offenbar so sehr auf, dass sie erst versuchte, vom Lichthaus eine polizeiliche Anmeldung der Vernissage zu erzwingen, um dann zu selbiger mit mehreren Streifenwagen Präsenz zu zeigen. Die Einschüchtungsstrategie setzte sich fort, als an den ersten drei Verhandlungstagen morgens Streifenwagen vor dem Elternhaus einer der Angeklagten standen und ein ihr nahestehender Zeuge auf dem Weg ins Gericht «wegen Verdachts auf Drogen» kontrolliert wurde. Die Soligruppe dokumentierte die Verhandlungstage und initiierte im Vorfeld eine Untersuchungsgruppe aus Anwält/innen, Rechtswissenschaftler/innen, Journalist/innen, Ärzt/innen und Parlamentarier/innen, die abwechselnd die Verhandlungen besuchten und öffentlich kommentierten. Am ersten Verhandlungstag verlasen die Angeklagten Erklärungen, die die Polizeigewalt und die durchschaubare Strategie der Staatsanwaltschaft kritisierten, per Einstellung hier und Anklage dort die uniformierten Täter/innen zu schützen. Sie stellten in den Erklärungen auch den Zusammenhang mit der Kontinuität polizeilicher Schikane gegen linke, nicht-konforme Jugendliche in Weimar dar, wie sie sich bereits in der Hetzjagd auf den «Feuerteufel» zeigte. Außerdem wurden auf Antrag der Verteidigung zwei Zivilbeamt/innen des Saales verwiesen. In den weiteren vier Verhandlungstagen kam durch die Zeug/innenaussagen der beteiligten Polizist/innen das ganze Ausmaß der organisierten Vertuschung ans Licht:
– Alle uniformierten Zeug/innen nahmen auf Initiative ihres Chefs, Ralf Kirsten, an einem speziellen Vernehmungstraining zum Thema «Polizeibeamte vor Gericht» bei einer Lehrkraft der Polizeifachschule Meiningen teil, um mittels Rollenspielen auf Befragungstechniken der Verteidigung vorbereitet zu werden. Sie machten auch einen Ausflug ins Erfurter LKA, wo sie nicht nur ihre eigenen Zeug/innenaussagen noch einmal studieren durften, sondern auch Einsatzberichte jener Nacht einsehen konnten.
– Das sog. Gewahrsamsbuch, in dem die vorgeschriebenen Kontrollgänge in die Gewahrsamszellen vermerkt werden müssen, war kurioserweise verschwunden und stattdessen in Form von selektiven, handschriftlichen Abschriften jener LKA-Beamtin, die die internen Ermittlungen führte, zur Akte gelangt. Diese Abschriften waren so lückenhaft, dass offensichtlich die Vorschriften der Gewahrsamsordnung durch die Beamt/innen verletzt worden waren. Polizei und Staatsanwaltschaft bevorzugten also das Eingeständnis dieses minderschweren Rechtsbruchs gegenüber der Gefahr, bei ordentlicher Führung und Vorlage des Buches die Namen der misshandelnden Beamten offenzulegen.
– Die Fotos von zwei der vier Betroffenen, die mit den handgemalten Namensschildern gemacht wurden, waren gar nicht in der Akte enthalten und auch nicht mit einer Polizeikamera angefertigt worden. Stattdessen gingen sie auf den übergriffigen Wahn des Polizisten Rimpler zurück, der dafür seine Privatkamera nutzte.
– Ein Polizeizeuge, der in seiner früheren Vernehmung noch seine Beobachtungen von der brutalen Festnahme einer der Betroffenen dargelegt hatte, wollte vor Gericht davon nichts mehr wissen. Stattdessen gab er an, durchgängig mit Funken in seinem Wagen beschäftigt gewesen zu sein und wollte nichts gesehen haben. Er widersprach auch Angaben aus dem Gewahrsamsbuch und der Außendienstdokumentation, an weiteren Diensthandlungen und Außeneinsätzen jener Nacht beteiligt gewesen zu sein.
– Eine Beamtin, die für Fälle häuslicher Gewalt zuständig ist, bestätigte leichte Handverletzungen bei der Hauptbetroffenen, die während des morgendlichen Verhörs sichtbar waren. Sie wollte jedoch sicher ausschließen, dass es die offene Wunde am Unterarm gegeben haben könnte, weil ihrem geschulten Auge das ja sicher aufgefallen wäre.
– Zwei vermutlich wichtige Polizeizeug/innen wurden über die Dauer des Prozesses langfristig krankgeschrieben und somit vor einem Zwang zur Aussage geschützt.
– Ein weiterer Zeuge, der aus anderen Gründen in jener Nacht zeitgleich mit den vier Betroffenen im Gewahrsam war und zuerst bei seiner Festnahme ins Gesicht geschlagen und im Liegen getreten wurde und auf dem späteren Weg in den Gewahrsamstrakt der Wache gefesselt auf die Treppenstufen fallengelassen worden war, wurde nach Einstellung seiner Anzeige gegen die Polizei genauso wegen «Vortäuschens einer Straftat» angeklagt.
Am fünften Prozesstag konnte bereits bilanziert werden: Der ganze Gewahrsam war rechtswidrig, da für eine Identitätsfeststellung eine Personalienkontrolle auf der Straße gereicht hätte, die Schikane mit den Fotos keine Qualität einer ordentlichen erkennungsdienstlichen Behandlung darstellte und der faktisch durchgeführte «Unterbindungsgewahrsam» einem richterlichen Beschluss hätte unterliegen müssen. Die Gewalt betraf nicht nur die vier Betroffenen, sondern auch andere Ingewahrsamgenomme in jener Nacht. Polizeichef Ralf Kirsten hatte Hand in Hand mit der LKA-Stelle für interne Ermittlungen und der Staatsanwaltschaft dafür gesorgt, dass möglichst keinem/r Uniformierten irgendwas nachzuweisen wäre und dass alle die gängigen Antworten von «hab ich nicht gesehen», «kann ich mich nicht erinnern» oder «hab ich nicht entschieden» gerichtsfest abzuspulen wussten. Dabei widersprachen sie sich jedoch immer wieder markant. Sie waren zudem auch nicht imstande, ihre Vorurteile bis hin zu Verachtung (besonders Staatsschützer Vaskulat) gegenüber den Angeklagten zu verbergen. Da weitere aufschlussreiche Vernehmungen von Polizist/innen anstanden, zog Staatsanwalt Kästner-Hengst am fünften Verhandlungstag die Notbremse und nahm kurzerhand die Strafbefehle gegen zwei Angeklagte zurück und willigte in die Einstellung der dritten Anklage ein. Damit war der Prozess plötzlich zu Ende.
Jeder Staat ist Polizeistaat
Zunächst schien das Platzen des Prozesses einen Erfolg für die Verteidigung und die Arbeit der Soligruppe zu markieren. Die Polizei war mit ihrem Versuch, aus den Misshandelten Täter/innen zu machen, nicht durchgekommen. Auch die Presse berichtete von den massiven Rechtsbrüchen der Weimarer Polizei und ihren Verstrickungen in den gerichtlichen Vernehmungen. Allerdings ist die Gesamtbilanz trotzdem verheerend: Uniformierte können straflos in ihren Zellen Menschen rechtswidrig zehn Stunden einsperren, schikanieren, beschimpfen und verprügeln. Dessau im Januar 2005 hat gezeigt, dass die Polizei in letzter Konsequenz auch straflos die bereits rechtswidrig Eingesperrten aus rassistischen Motiven bewusstlos prügeln und dann verbrennen kann, siehe
initiativeouryjalloh.wordpress.com. Die Täter/innen können genauso straflos vor Gericht lügen. Sie tun das alles mit Beamtengehalt in ihrer Arbeitszeit und die von ihnen verursachten Prozesse kosten sie keinen Cent. Ihr Schutz wird per LKA und Staatsanwaltschaft von Steuergeldern bezahlt. Warum sollten diese Institutionen, die offiziell natürlich «unabhängig und unvoreingenommen» ermitteln sollten, auch ihre eigenen Kolleg/innen bzw. ihr eigenes Ermittlungspersonal reinreißen? Und dadurch an der Legitimation ihres Gewaltmonopols – Schutz der Bevölkerung – rütteln lassen?
Die Betroffenen hingegen wurden nach erfahrener Ohnmacht, Erniedrigung und Misshandlung als Strafe für ihre belastenden Aussagen gegen Polizist/innen angeklagt, in drei Jahre andauernde Verfahren gezwungen und sie mussten Tausende von Euro aufbringen, um ihre Verteidigung zu bezahlen. Die Traumatisierungen vom 19.4.2012 müssen sie selbst bewältigen oder schlimmstenfalls beim nächsten Ausrücken vom Prügelteam Rimpler & Co erneut erfahren. Für die Öffentlichkeit musste die Soligruppe bundesweit nach bürgerlich anerkannten «Expert/innen» suchen, die dafür Sorge trugen, dass eine polizeikritische Deutung des Falles überhaupt Beachtung bekommt.
In der Pressekonferenz nach Prozessende forderte der LINKE-Abgeordnete, der auch die Staatsanwaltschaft für ihr «Aufklärungsbemühen» lobte, als Konsequenz einzig eine «unabhängige Beschwerdestelle». Demgegenüber stellte ein Sprecher von «Weimar im April» klar, dass existierende Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit von Polizei und Justiz zwangsläufig zur Folge haben müssten, dass die Polizeiinspektion Weimar mitsamt des umliegenden Wohnviertels zum Gefahrengebiet erklärt wird und alle diensthabenden Beamt/innen nach § 129 StGB, Bildung einer kriminellen Vereinigung, angeklagt werden müssten. Da hiervon jedoch nicht ausgegangen werden kann, würde der Soligruppe nach einzig eine größere Vernetzung von Betroffenen der Polizeigewalt und selbstorganisierter Schutz gegen Polizei und Justiz helfen.