Die Kommune von Hartroda

von der AIBJ-Redaktion

Im Jahre 1978 machte sich eine Hand­voll Menschen auf, auf dem Boden der Deutschen Demo­kra­tischen Republik eine neue Form des Zusammenlebens aus­zuprobieren. Auf ihrer Flucht vor den alltäglichen Normen und Zwängen des „staats­sozialistischen Realismus“ wur­den sie in einem 50-Einwohner*innen-Dörf­chen namens Hartroda (Altenburger Land; nordöstlich von Gera) fündig. Dort grün­deten sie eine zunächst von christ­lichen Werten geprägte Landkommune. Durch dessen kom­pro­misslose Aus­legung sprengten sie jedoch schnell den religiösen Rahmen. Übrig blieb ein heute noch oft anzutreffender Punk-Anarchismus, der sich weniger aus fundierter Gesell­­schafts­kritik speiste, als sich durch den unbedingten Willen nach freier Entfal­tung auszeichnete. Obwohl sich die strukturelle Be­grenztheit dieses Ansat­zes zügig im Alltagstrott niederschlug, widmen wir diesem Experiment dieses Mal unsere Aufmerksamkeit in der Spar­te Bewe­gungsgeschichte. Einerseits gera­de weil auch dieses Projekt, wie viele seiner Vorgänger und Nachfolger, an inneren Widersprüchen zu Grunde ging, die als solche nicht erkannt wur­den. Andererseits weil der Umstand, dass sich in Hartroda behinderte und nicht-behinderte Menschen zusam­men­fanden, um mittels konkreter Soli­darität gegen die herrschenden Normen zu rebellieren, Hinweis darauf ist, dass der An­spruch der freien Ent­faltung aller Men­schen im real exis­tierenden Sozia­lis­mus an selbst gemachte Grenzen stieß.

Eine Jugend im Heim

Matthias Vernaldi gehörte zu den maß­geb­lichen Initiator*innen und Grün­dungs­mitgliedern der Kommune Hart­roda. Anhand seiner Biographie lässt sich darstellen, dass auch für die Gesellschaft der DDR die wichtigste Bot­schaft der „Krüppelbewegung“ galt: Men­schen sind nicht behindert, sondern werden von der Gesellschaft behindert.

Er wurde mit der Anlage zu einer gene­­tisch bedingten Form des Mus­kel­schwun­des geboren. Bis zu seinem siebten Lebensjahr wohnte er bei seinen Eltern, um dann in das „Haus am See­berg“ in Gotha – einer Schule für behin­derte Kinder – zu ziehen. Er wurde zwar nicht – wie in anderen doku­men­tierten Fällen – gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt. Die Gering­schät­zung seines Lebens erfuhr er in den sieben Jahren, die er im Internat blieb, jedoch in voller Härte. Obwohl oder gera­de weil die Einrichtung zu den mo­dern­sten ihrer Art in der DDR ge­hörte, schaffte sie den Kindern mit Wohnsälen a 25 Betten, ratio­na­lisierter Pflege und ent­mün­di­gender Forschung ein Um­feld, das nur wenig zu deren Ent­wicklung und Entfaltung beitrug: „Die gin­gen durch die Bettreihen und zogen den Leuten die Hosen runter, leg­ten reih­um Pinkelpullen an oder Bett­pfan­nen1 […] Zum Teil sind behin­derte Men­schen mit Medi­ka­men­ten ruhig gestellt wor­den […] Die wurden früh ge­wa­schen, dann kriegten sie eine Tab­lette hin­terher, damit sie bis zum Mittag­essen ruhig waren. Das ist keine Le­bens­­perspektive für Men­schen, die was wollen und die […] hochintelligent sind“, erin­nert sich ein Weggefährte Vernaldis.2 Ent­zogen sich die Kinder der Akkord-Ab­fertigung durch die Pfleger*­in­nen, droh­te die „Mäuse­kiste“, eine Art Tru­he auf dem Dachboden des Gebäu­des, die so hoch war, dass sich die Ein­ge­sperrten nicht aus eigener Kraft befreien konn­ten. Damit nicht genug, musste sich Vernaldi des Öfteren schmerz­haften „Behand­lungen“ unter­ziehen lassen. Mit ortho­pädischen Mit­teln wurde versucht eine Angleichung an den Normkörper herzustellen, die trotz nicht enden wol­len­der Versuche oft schei­terte: „Er [Pfleger] hatte Schurz und Stiefel aus Gum­mi an. Ruppig nahm er mich hucke­pack und schlepp­te mich in den Keller. Dort zogen auch die Ärzte Gummi­schürzen über. Ich wurde nackt auf eine Pritsche gelegt und auf den Bauch ge­dreht. Dann drückten alle Hände im Gips­keller an meinem Körper herum. Ich wur­de gerichtet. Erst mit einer Rolle un­ter den Knien gelang es, meinen Hintern so­wie Füße und Beine derart durch­zu­drüc­ken, dass sie den Vor­stel­lung­en der Ärzte entspra­chen.“3 Zu­letzt musste Vernaldi noch als Ver­suchs­kaninchen her­halten. Wis­­sen­schaft­ler*innen führ­ten Expe­ri­men­te durch, Muskelschnitte, mit­tels derer aus medizinischer Sicht die Ursachen der „Behinderung“ er­forscht wurden. So soll­ten Wege gefun­­den werden, künf­tigen Gene­ra­tio­nen das Leid zu er­spa­ren, das Ver­naldi aus der ethisch-nor­ma­ti­ven Perspektive des Staates zu­ge­schrie­ben wurde. Dass die­ses Leid über­haupt erst durch die Be­hin­derung seitens der Gesellschaft her­vor­ge­rufen wurde, dafür sind Ver­ant­wort­liche da­mals wie heute oft blind.

„Asoziale“ und „Behinderte“ in der sozialistischen Leistungs­ge­sell­schaft

Die soziale und medizinische Behand­lung Vernaldis verdeutlicht, wie nahe dis­­­kursiver und physischer Zugriff des Staa­tes und des Kapitals auf die ihnen unter­worfenen Körper bei­ei­nan­der lie­gen.

Die Idealisierung und Sti­­li­sierung sozialistischer Körper gehör­te zum Alltag der SED-Pro­pa­gan­da. Wer kennt sie nicht, die Vorbilder (zumeist Männer*) mit Hammer in der Hand, von Schweiß getränkt und ent­schlos­sen zum Aufbau des Sozialis­mus bereit. In der Leit­kultur des Real­so­zia­lismus gab es vorwiegend pro­duk­tive Kör­per. Produktiv war im Rahmen des Staats­kapitalismus und seines Prolet­kult, wer Lohn­ar­beit leistete. Von dieser Norm aus­gehend beurteilten Staat und Kapital den Wert eines Men­schen oder besser: sei­nes Körpers. Abwei­chungen davon wur­den anhand des Kriteriums (Re)In­te­gra­tions­fähigkeit in den Pro­duktions­prozess kategorisiert, was uns stark an den westlichen Kapi­talismus erinnert. Auf der einen Sei­te gab es „moralisch-sitt­lich ent­ar­te­te“ Menschen, die auf Grund „falscher Ein­flüsse“ vom richtigen Weg ab­ge­kom­men sind. Diese „arbeits­scheuen Ele­men­te“ galten als durch (Um)Er­zieh­ung „heil-“ bzw. „bekehr­bar“. Die ange­wand­ten Methoden zur „Bes­serung“ reich­ten von sozialem und psychischen Druck bis hin zu Zucht­haus, Gefängnis und Psychia­tri­sierung. Auf der anderen Seite gab es die „physisch und geistig behin­derten“ Men­schen, deren Ein­schrän­kung als unum­kehrbarer Schaden begriffen wurde. Die Integration in den Pro­duk­tions­prozess galt als un­möglich. In beiden Fällen wurden Menschen, die ihre Arbeitskraft (vorübergehend) nicht ver­kaufen wollten oder konnten, als para­­sitäre Fremdkörper, als lästiger Über­schuss gebrandmarkt. Doch nur behinderte Menschen, die als „nicht heil­­bar“ galten, wurden in Verwahranstalten abgeschoben und somit von der gesellschaftlichen Teilhabe aus­ge­schlossen. So mussten diese in der Regel bis zum 18. Lebensjahr in Schu­len oder Hei­men leben (unter 18 waren sie gar regis­trierungspflichtig bei der Gesund­heits­behörde) und ab dem 18. Lebens­jahr blieb ihnen nur noch der Rückzug zur Familie oder der Gang ins Alters­heim.

Vernaldi selbst blieb dieses „Schick­sal“ so­­zialen Ausschlusses erspart, weil er mit 14 Jahren erstmals in Kontakt mit „Unan­gepassten“ kam, ein Umfeld, dass es ihm ermöglichte, sein Leben bis zu objektiven Grenzen selbst in die Hand zu nehmen.

Die Gegenkultur der 70er Jahre

In der DDR kam es 1968 zwar zu keiner breiten gesellschaftlichen Revolte wie in Westdeutschland. Nichtsdestotrotz entstand während der 70er Jahre in der ganzen DDR eine Gegenkultur gegen die staat­liche Kulturpolitik und die gesell­schaft­lichen Zwänge. Den soge­nann­ten Trampern, Bluesern oder Kunden reich­ten der Rückzug ins Private und der Kon­sum von West-Medien nicht. Sie wollten aufs Gan­ze gehen und eine neue Alltags­kultur etablieren, die nicht mit den pro­gres­siven Zielen des real existierenden Sozialismus brechen sollte, hingegen aber mit den Schranken, die dieser der Ver­wirklichung setzte: „Wir stellten uns irgend so eine Mischung aus Kommu­ne und christlicher Bruderschaft vor. Die Nicht­behinderten sollten den Behin­­der­ten die Hilfen geben, die diese brauch­ten. Dafür mussten sie nicht in der VEB-Knochenmühle schuften und ihr Le­ben im stupiden Rhythmus von acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf vertun.“4 Hier zeigt sich deutlich der „Geist von 68“, die Ablehnung der Entfremung im Alltagstrott.

Während die Beding­ungen für den unmittelbaren Ausbruch aus dieser erdrückenden Öde für die west­deut­schen Genoss*innen weitaus gün­sti­ger waren, stellten sich allen libertär Gesinnten jenseits der Mauer im­men­se juristische Hürden in den Weg. Sogenanntes „Asoziales Ver­halten“ stand unter Strafe (An­wen­dung fand bis 1977/9 ein Paragraph, der noch aus der Kaiserzeit stammte und in der Folge auch nur geringfügig libe­ra­li­siert wurde). In dem Para­graphen heißt es: „Wer das gesell­schaftliche Zusam­men­leben der Bürger oder die öffent­liche Ordnung und Sicherheit beein­trächtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer ge­re­gel­ten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Frei­heits­strafe bis zu zwei Jahren bestraft.“ (Version 1979)5.

Die Kommune von Hartroda – Zu­flucht für behinderte und nicht-behinderte Aufmüpfige

Die Landkommune von Hartroda stellte für unsere Protago­nist*­in­nen ohne „Behinderung“ insofern einen Ausweg dar, da die Härte des Geset­zes sie nicht treffen konnte, so­lan­ge sie sich für die Pflege der Menschen mit „Behinderung“ verant­wortlich zeig­ten. Unter diesen Umständen ent­stand eine Art symbiotische Gemeinschaft gegen­­seitiger Soli­darität. Die behin­der­ten Menschen warfen ihre staatliche Rente in die gemeinsame Kasse und stemm­­ten das Projekt damit finanziell, während die Anderen einen Teil ihrer Arbeits­kraft auf die Pflege ersterer ver­wendeten, die nicht waren­förmig ver­mittelt, durch­ratio­nalisiert und jeder men­schlichen Wärme ent­leert stattfand, sondern auf emo­tio­naler Bindung ba­sierte.

Für dieses Projekt befreiender Ab­hängig­keit nahmen die zwischen­zeit­lich 20 Be­woh­ner*innen so manche sonstige Ein­schränkung in Kauf: „Kei­ne befestigte Stra­ße gibt es im Ort, keine Post, keinen Laden, keine Bus­haltestelle.“ Und: „Wir zo­gen mit ein paar Matratzen und Stüh­len, einer Kochplatte und einem Ton­band­­gerät in die Ruine und waren glück­lich.“6 Die physische Isolation bot je­doch gerade in der DDR so manchen Vorteil: „Die Abgeschiedenheit, das ver­meint­li­che Unbeobachtetsein und die tat­säch­liche Freiheit, so zu leben, wie es beliebt, macht die Kommune zum An­lauf­punkt für An­dersdenkende, für spätere Oppo­si­tio­nelle, für DDR-Punks, auch für Dro­genabhängige, für von der Gesellschaft Aus­gespiene, die hier der DDR-Wirk­lich­keit entfliehen wollen.“7 Schnell wurde der Ort jedoch über die lokale, selbst re­gionale und sogar staatliche Grenzen hi­naus bekannt, sodass Mitte der Achtzi­ger Jahre Feste gefeiert wurden mit hunderten von Besucher*innen, da­run­ter auch die Toten Hosen. Be­son­ders Vernaldi tat sich als poli­tischer Aktivist hervor, der sich weder von seiner „Krankheit“, noch von poli­ti­scher Repression ein­schränken lassen wollte: „Denn Vernaldi ist vernetzt auch nach Westdeutschland. Als Schwerst­behinderter darf er zum Klas­sen­feind reisen. Er baut Kontakte nach Westberlin aus, schmuggelt Can­na­bis, verbotene Bücher, Info­blätter der An­­tifa in die Land­kom­mune in Ost­thü­ringen.“8

Auf Grund dieser Reichweite konnte das Wirken der Kommunard*innen natürlich auch der Staatssicherheit nicht ver­bor­gen bleiben. Im Laufe der Jahre leg­te diese eine Akte an, die 2000 Seiten überschritt. Den ope­ra­ti­ven Vor­gang ge­gen Vernaldi nannte sie mit einer vor Ver­ach­tung strot­zenden Selbst­ver­ständ­lich­keit „Pa­ra­sit“. In einer Ein­schät­zung des Ge­fah­ren­po­ten­zials durch die Stasi heißt es: „Seit ihrem Be­stehen entwickelt sich die Gruppe in Hartroda zu einem An­lauf­punkt für ne­gativ-klerikale Kräfte, Homo­se­xuel­le, Aso­ziale, Haft­ent­lassene und so­ge­nann­te ,Aus­steiger’.“9. Aus der Perspektive des Minis­teriums für Staats­sicherheit (MfS) wün­schte sich dies auch folge­rich­tig für alle an den subversiven Tätig­keiten Beteiligten, vor allem jedoch für die behin­derten Menschen, lieber „ein Ende mit Schrec­ken“, statt ein „Schrecken ohne Ende“. Nach dem Zusammenbruch des Regi­mes musste auch Vernaldi mit Schmerz feststellen, dass neben Ober­kir­chen­räten sowie dem Hausarzt der Kommu­ne auch einer seiner Mitbe­woh­­ner (der heute noch in der WG Hartroda wohnt) zu den Infor­mant*­in­nen gehörte.

Weiterentwicklung des Projekts nach der Wende

Vernaldi lebt schon lange nicht mehr in Hartroda. Nach der „Wende“ zog es ihn 1994 nach Berlin, wo er bis heute im Stadt­teil Neukölln wohnt. Dort grün­de­te er neben der „Arbeitsgemeinschaft für selbst­bestimmtes Leben schwerst­behin­der­ter Menschen e.V.“ die Zeit­schrift für das „Organisierte Ge­bre­chen“ und beteiligt sich an Aktionen für Behindertenrechte. So besetzte er Anfang 2017 das Kreuzberger Rathaus mit, um dagegen zu protestieren, dass vielen Behinderten die Assistenz im Krankenhaus nicht bezahlt wird.

Darü­ber­hinaus widmete er sich einem weiteren Kampffeld, das er zum Teil auch schon in Hart­roda beackerte. Er setzt sich bis heute für das „Recht auf Sex“ für behin­derte Menschen ein. Das Absprechen von sexueller Selbstbe­stim­mung stellt nur eine besondere Spiel­form des Ab­spre­chens von Selbstbestimmung im All­gemeinen dar: „Im Vorfeld waren mei­ne Erfah­rung­en, dass Prostituierte sagten: Nee, mit dir nicht, du bist ja behindert. Und da entstand die Idee, dass dahinter mehr steht als nur eine per­sönliche Abneigung. Dass das eben ein gesell­schaftliches Phänomen ist, dass Behin­der­ung erotisch als unatt­rak­tiv bewertet wird – nicht nur als un­attraktiv, sondern oft auch als Schreck- und Scheubild.“10 Behinderte Körper gelten schließlich ebensowenig als re­produktiv wie als produktiv und zwar im dop­pelten Sinne: sie sollen sich nicht vermehren und sie können es (im bürgerlichen Sinne) auch nicht. Gerade die nach wie vor anhaltende Desex­ua­li­sierung und Enterotisierung behinderter Kör­per beweist, dass in der bürgerlichen Ideologie Sexualität und Reproduktion ein unzertrennliches Begriffspaar sind, gemäß dem christ­lichen Motto: Wer sich nicht ver­meh­ren kann, braucht auch keine Sexua­li­tät. Vernaldi arbeitete des­we­gen an der Eröffnung des ersten bar­rie­re­freien Bordells („Liberty“) in Berlin, was aber letztlich eine ganz neue Ge­schich­te ist.

Die Kommune Hartroda hingegen ist mitt­ler­weile zu einer normalen Wohn­gemeinschaft geworden, in der sich Ex-Kommunard*innen mit Hartz-4-Bezug durch den BRD-Alltag schlagen. Sie ist dennoch ein Beispiel für die versuchte Vorwegnahme befreiter Verhält­nisse im Hier und Jetzt ge­wesen. Die Ver­gemeinschaftung der Reproduktions­arbeit wie etwa in der Pflege und Für­sorge ist ein not­wen­di­ger Bestandteil einer freien Verge­sell­schaftung, gewissermaßen dessen Bedingung und Erprobung, ohne mit ihr identisch zu sein. Sie ersetzt das auf Zwang und Ideo­logie beruhende Solidaritätsmodell der bürgerlichen Kleinfamilie, ohne jedoch den oder die Einzelne vollkommen zu ver­ein­zeln, wie es der Neoliberalismus macht. Solcherlei kon­krete Solidarität schafft oft erst den notwendigen Freiraum zur Entfaltung politischer Potenziale und Bewusst­seins­bildung: „Die Idee, dass Behinderte die Hilfen bekamen, die sie für ein Leben nach eigenen Maßgaben brauchten, be­stimm­te zwar unseren Alltag, trat aber in den Hintergrund angesichts der vielen anderen Ideen, die sehr schnell bei uns andockten: Pazifismus, Bürger­rechte, Ökologie, Anarchie…“11

Grenzen in der Umsetzung des Kom­mune-Gedankens

Der Maßstab des Erfolges dieser Ver­suche ist und bleibt demnach die indi­viduelle Entfaltung auf Basis gegen­seitiger Hilfe. Daran gemessen sieht die Wirklichkeit ähnlich wie bei den zahl­reichen westdeutschen Expe­ri­menten im Wohnumfeld nicht un­be­dingt rosig aus. Rückblickend stellt auch Vernaldi fest, dass in der Realität die zwischen­menschlichen Bezie­hun­gen in der Kommune weit weniger befreit waren als ersehnt: „Der anti­au­toritäre, anar­chische Ansatz hatte zur Folge, dass verantwortungsvolle Leute mit Arbeit überhäuft waren, während andere fernsahen und Bier tranken.“12 Zugleich etab­lierten sich neue Abhängigkeiten, da eine Rück­kehr in den Schoss der „Nor­mal­ge­sell­schaft“ für die nicht behinderten Be­woh­ner*innen mit geringeren Kosten verbunden war: „Wir Behin­derten konnten es uns nicht leisten, das Pro­jekt enden zu lassen. Un­sere Existenz hing daran.“13 Das Fundament freier und gleicher Bezie­hung­en, die Mög­lich­keit diese unter ver­gleichbaren Folgekosten aufrecht­er­halten oder beenden zu können, wurde also auch in Hartroda nicht gegossen.

Insgesamt konfrontierten sich unsere Protagonist*innen mit etwas, das man als Dilemma präfigurativer Politik bezeichnen könnte. Die angestrebte Einheit von Mittel und Zweck benö­tigt, um zu funktionieren, jene verant­wor­tungs­bewussten Menschen, die sie erst hervorbringen soll. Sie unter­liegt inso­fern der Versuchung, der un­ver­­mit­tel­ten Politik des real exis­tie­ren­den Sozialis­mus ihr Gegen­teil als prak­tische Kritik entgegen zu setzen. Während im autoritären Sozialismus der Bereich des Privaten zum Neben­wider­spruch degradiert und mit der Umwälzung der ökonomischen Ver­hältnisse angeblich gelöst wurde, erhob die „antiautoritäre“ Ant­wort das Private zum Gegen­stand unmittel­barer Befreiung. In der Folge wird die Revolution zwar nicht mehr auf mor­gen verscho­ben, jedoch für gegen­wärtig zumindest im Kleinen durch­führbar erklärt. Die entsprechend hohen Erwartungen an den einzelnen Menschen bilden seit je her das Ein­falls­tor von Autoritarismus in der antiauto­ri­tä­ren Linken. Nicht das blin­de Folgen undurchdachter Grundsätze und die dadurch hinter dem Rücken der Akteure entstehenden sozialen Effekte werden als Problem und eine der Ursachen des Scheiterns der ei­ge­nen Politik erkannt, sondern das Fehlverhalten, die Abwei­chung oder die Unvollkommenheit Einzelner. Leid­lich lässt sich feststellen, dass man sich damit in dieser Hinsicht gar nicht so sehr von den staats­soz­ia­lis­tischen Versuchen unter­scheidet. Es zeigt sich also, dass kein Weg an der his­torisch-materialistischen Er­kennt­nis vorbei führt, dass die Veränderung der Einzelnen immer durch die Um­stände, in denen sie leben, begrenzt bleibt. Praktisch bedeutet das zu­nächst einmal, dass indivi­duelles wie kollektives Auspro­bie­ren, Ex­pe­ri­men­tieren, Schei­tern und Feh­ler Machen Dür­fen das Grund­gerüst wirklicher Per­sön­lich­keits­entfaltung bilden müs­sen.

 

Fußnoten

1,3: Matthias Vernaldi zitiert nach Kai Schlieter: „Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel“. Behinderte im Visier der Stasi, In: taz (16.08.2008), http://www.taz.de/!5177317/.

2,7,8,9: Kai Schlieter: „Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel“. Behinderte im Visier der Stasi, In: taz (16.08.2008), http://www.taz.de/!5177317/.

4,6,11,12,13: Matthias Vernaldi: Wohngemeinschaft Hartroda, In: Mondkalb. Zeitung für das organisierte Gebrechen (Nr. 1 2008), https://mondkalb-zeitung.de/wohngemeinschaft-hartroda/.

5: §249 Strafgesetzbuch der DDR, Version 1979.

10: Matthias Vernaldi zitiert nach Andrea Gentsch: Selbstbestimmt! Die Reportage. No more Tabus – Sex mit Behinderung, In: MDR (10.09.2017), https://www.mdr.de/selbstbestimmt/reportage/no-more-tabus100.html.