Der Anarchosyndikalismus, die anarchistische Gewerkschaftsbewegung, kann auch in Deutschland auf eine reiche und wechselhafte Geschichte zurückblicken. Anfang des 20. Jh.s bildete sich die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG), die sich nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) umbenannte und für kurze Zeit bis zu 150.000 Arbeiter_innen organisierte. Nach der Zerschlagung der FAUD durch den Nationalsozialismus gründete sich erst 1977 eine Organisation, die an diese Tradition anknüpfte, die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Seit 2012 bauen wir mit Rückblick auf diese Geschichte die FAU in Jena auf.
FVDG und Anarcho-Syndikalismus
In Deutschland haben sich im Laufe der Industrialisieurung ab den 1860er Jahren Gewerkschaften gebildet. Diese standen seit jeher vor allem unter lassalleanischem und marxistischem Einfluss und wurden so eng an die sozialdemokratische Partei gekoppelt. Nichtsdestotrotz kam es während der Sozialistengesetze von 1879 bis 1890 zwangsweise zu einer Dezentralisierung der Gewerkschaften, da in der Zeit zentrale Gewerkschaftsapparate verboten und nur lokale Organisationen erlaubt waren. Als es nach der Aufhebung der Sozialistengesetze in den frühen 1890ern erneut zu einer Zentralisierung der Gewerkschaftslandschaft kam, spaltete sich die föderalistisch orientierte Minderheit, die sogenannten Lokalisten, ab, die die lokale Autonomie beibehalten und sich keiner Zentrale unterwerfen wollte. Auf ihrem Gründungskongress 1897 konstituierten sie sich als die „Lokalorganisierten“, 1901 wurden sie in „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ (FVDG) umbenannt. Diese dissidente Strömung wurde fortan von der Mehrheitsströmung innerhalb der SPD bekämpft. 1906 wurde beschlossen, die Lokalisten aus der Partei auszuschließen und 1908 wurden sie letztendlich rausgeschmissen.
In derselben Zeit, also in den 1890ern und 1900ern, entstand in Frankreich die Idee des Anarcho-Syndikalismus, d.h. des Zusammengehens der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, des Syndikalismus, einerseits und des Anarchismus andererseits. Der Anarcho-Syndikalismus entwickelte in dieser Zeit ein breites Programm, das sich deutlich von dem der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsbewegung unterschied: Unabhängigkeit von Partei und Staat statt Parteiführung und Parlamentarismus, Selbstorganisation vor Ort statt Zentralisierung, Klassenkampf statt Wahlkampf, Antimilitarismus und der Generalstreik. Diese Ideen wurden bis zum Ersten Weltkrieg auch von der FVDG aufgenommen. Im Unterschied zu den romanischen Ländern blieb die FVDG bis dahin eine Minderheitenströmung innerhalb der Arbeiterbewegung: 1911 waren 2,5 Millionen Arbeiter_innen in den Zentralgewerkschaften organisiert, in der FVDG dagegen nur 8000.
Während die SPD und die Zentralgewerkschaften im Ersten Weltkrieg den Krieg befürworteten, den Burgfrieden mit Staat und Kapital eingingen und ihre Arbeit weitgehend ungestört fortführen konnten, wurden die Zeitungen der FVDG immer wieder verboten und viele Kriegsgegner_innen, darunter auch Mitglieder der FVDG, verfolgt und inhaftiert. Trotz des Kriegs und der Wehrpflicht und trotz staatlicher Repression konnte die Organisation bis zum Kriegsende aufrecht erhalten werden.
Die FAUD
In der Zeit der revolutionären Aufstände und Kämpfe von 1918 bis 1923 reorganisierte sich die anarchosyndikalistische Bewegung und erhielt für kurze Zeit auch in Deutschland massiven Zulauf. Die FVDG benannte sich in Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) um und wuchs bis 1922 auf 150.000 Mitglieder an. Nach dem Scheitern der revolutionären Aufstände im Deutschen Reich schmolz die FAUD bis Mitte der 1920er Jahre auf 20.000 bis 30.000 Mitglieder zusammen. Ihr Einfluss in den Betrieben und in den Arbeitskämpfen blieb abgesehen von gewissen Branchen und Regionen folglich marginal. Eine größere Wirkung dagegen hatten die kulturellen Aktivitäten der FAUD.
Die Zeitung der FAUD war „Der Syndikalist“ und wurde 1932 verboten. Die Frauen- und Jugendorganisationen der „Syndikalistische Frauenbund“ (SFB) und die „Syndikalistisch-Anarchistische Jugend Deutschlands“ (SAJD) entstanden noch während der revolutionären Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, organisierten aber zu Hochzeiten nicht mehr als 1000 Frauen bzw. 5000 Jugendliche. Im Kontext des antifaschistischen Abwehrkampfs der frühren 1930er Jahre bildeten sich aus der FAUD die „Schwarzen Scharen“ heraus, eine militante antifaschistische Jugendbewegung. Darüber hinaus waren FAUD-ler_innen maßgeblich an der „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ (GfB), der „Gemeinschaft proletarischer Freidenker“ (GpF) und an den Sexualreformvereinen beteiligt. Die FAUD initiierte die Gründung der „Internationalen Arbeiter Assoziation“ (IAA), einer anarcho-syndikalistischen Gewerkschaftsinternationale. Der Sitz der IAA befand sich bis 1933 in Berlin.
Laut Meldungen aus dem „Syndikalist“ gab es ab Juni 1919 auch in Jena eine Gruppe der FAUD. Diese hatte es in der ziemlich gemäßigten Jenaer Arbeiterschaft offenbar aber nicht leicht. Zwei ihrer Mitglieder wurden während des revolutionären Aufstands in Mitteldeutschland im März 1921 bei den Kämpfen um die Leuna-Werke getötet.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging die FAUD in den Untergrund. 1936 zogen mehrere FAUD-ler_innen nach Spanien, um dort in der Spanischen Revolution zu kämpfen. Bis heute ist die Spanische Revolution das beste Beispiel dafür, dass sich anarchosyndikalistische Ideen auf gesellschaftlicher Ebene anwenden lassen. Unter dem Einfluss der spanischen CNT wurden während des Bürgerkriegs gegen den Faschisten Franco selbstorganisierte Milizen aufgebaut, Fabriken in Arbeiterselbstverwaltung übergeben, das Land kollektiviert und zahlreiche kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen initiiert. Ab 1937 drängte die von der Sowjetunion unterstützte Kommunistische Partei sozialrevolutionäre Bestrebungen zurück und bis 1939 wurde die Spanische Republik von Franco mit internationaler Unterstützung niedergeschlagen. Bis 1937 wurden auch im Deutschen Reich die FAUD-Widerstandsgruppen zerschlagen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten sich die wenigen überlebenden oder heimkehrenden FAUD-ler_innen in den westlichen Besatzungszonen in der Föderation freiheitlicher Sozialisten (FFS). Diese brachte bis 1953 die Zeitung „Die freie Gesellschaft“ heraus. Es gelang den freiheitlichen Sozialist_innen jedoch nicht, eine neue Bewegung zu initiieren. Stattdessen begrenzte sich ihr Programm neben Bildungsveranstaltungen auf das Engagement auf lokaler Ebene in den Zentralgewerkschaften, als Betriebsräte oder in Kommunalparlamenten. Die letzte FFS-Gruppe löste sich Anfang der 1970er in München auf.
Die FAU
Erst in den 1970er Jahren, im Rahmen des Wiederauflebens des Anarchismus und der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung weltweit, sollte sich auch in Deutschland wieder eine kämpferische anarchosyndikalistische Organisation bilden. Junge Anarchist_innen aus Westdeutschland begannen, sich für den Anarchosyndikalismus der Zwischenkriegszeit zu interessieren. Über Willy Hupertz und seine Zeitung „Befreiung“ sowie spanische Exil-CNT-ler_innen in Frankreich und der BRD konnten sie mit dieser Bewegung Kontakt aufnehmen. 1970 gründete sich das „Anarchosyndikat Köln“, das 1977 maßgeblich an der Bildung der „Initiative FAU“ (I-FAU) beteiligt war. Ab 1977 wurde die Zeitung „Direkte Aktion“ (DA) herausgebracht. 1983 wurde die Initiative in „FAU“ umbenannt. FAU-ler_innen begannen, in ihren Betrieben aktiv zu werden und Arbeitskämpfe verschiedener Arbeiter_innen zu unterstützen. Nichtsdestotrotz wirkte die FAU in den 1980er und 1990er Jahren vor allem als Ideen- und Propagandaorganisation. Noch während des Umbruchs in der DDR 1989/1990 bildeten sich auch in Ostdeutschland FAU-Gruppen.
Seit 2008 führt die FAU eigene Arbeitskämpfe und entwickelt sich immer mehr zu einer wirklichen Gewerkschaft. Ausschlaggebend war hier der Streik prekärer Arbeiter_innen am Kino Babylon in Berlin in den Jahren 2008 und 2009. Auch in den folgenden Jahren sollte die FAU Berlin mit ihren Arbeitskämpfen und betrieblichen Organisierungsprozessen die gewerkschaftliche Praxis der Gesamt-FAU weiterentwickeln und dabei Segmente der Arbeiterklasse organisieren, die oft als unorganisierbar hingestellt werden. 2012 bildete sich innerhalb der FAU Berlin die Foreigners Section als eigenständige Sektion migrantischer Arbeiter_innen. Ende 2014 begannen mehrere rumänische Bauarbeiter von der Baustelle der Mall of Berlin gemeinsam mit der FAU Berlin gegen die Lohnprellerei durch ihre Chefs zu kämpfen. In dem Zeitraum schloss die FAU Berlin auch ihren ersten Tarifvertrag in einem Online-Versandhandel ab. 2016 organisierten sich Fahrradkuriere der Tech-Unternehmen Deliveroo und Foodora in der FAU und starteten eine medienwirksame Kampagne um die Arbeitsbedingungen in der digitalisierten Gig Economy. Ende 2017 rief die FAU Berlin im Bildungswerk des Berliner Lesben- und Schwulenverbands zu ihrem ersten Streik auf und 2018 beteiligte sie sich aktiv an der Streikbewegung der studentischen Hilfskräfte an den Berliner Unis. Doch auch in anderen Städten führt die FAU immer wieder eigene Arbeitskämpfe, sei es der Streik in der Dresdner Trotzdem-Kneipe 2014 oder im Blumengeschäft Blumen Wolf in Hannover 2018.
Die FAU war bis 2016 Teil der Internationalen Arbeiter*innen-Assoziation (IAA). 2018 hat sie mit anarchistischen und revolutionären Gewerkschaften wie der spanischen CNT, der italienischen USI, der IWW aus Nordamerika und der polnischen IP die Internationale Konföderation der Arbeiter*innen (IKA) gegründet. Innerhalb der IKA finden internationale Austausch- und Bildungstreffen statt. Außerdem werden Kämpfe der jeweiligen Schwestergewerkschaften politisch und praktisch unterstützt.
Die FAU Jena
Im März 2007 wurde in Meiningen und Suhl die FAU Südthüringen (FAUST) gegründet. Schon einige Monate danach unterstützte die FAUST die Besetzung des Nordhäuser Fahrradwerkes „Bike Systems“ durch die Arbeiter_innen. Dort wurde von der Belegschaft die Produktion in Selbstverwaltung übernommen. Das „Strike Bike“ wurde zwar zum Soli-Hit, das selbstverwaltete Werk ging trotzdem 2010 pleite.
2012 verlagerte die Thüringer FAU ihren Schwerpunkt von Südthüringen nach Erfurt und Jena und wurde in FAU Thüringen und später FAU Erfurt/Jena umbenannt. Seit 2013 führen wir zunehmend eigene Arbeitskämpfe. Damals beteiligten wir uns an dem Protest und dem Streik der studentischen Hilfskräfte am Institut für Soziologie der Uni Jena. Anschließend setzten wir die Minijobkampagne über die Unterstützung einer Reihe von Arbeitskämpfen von Minijobber_innen und einen Minijoblohnspiegel auch in Jena um.
Im Sommer 2016 unterstützten wir die studentischen Telefoninterviewer_innen aus dem CATI-Labor des Instituts für Soziologie der Uni Jena, eine Art wissenschaftliches Call Center, in ihrer Kampagne für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Sie endete damit, dass im CATI-Labor die scheinselbstständige Beschäftigung über Honorarverträge abgeschafft und ordentliche Arbeitsverträge eingeführt wurden. Der Konflikt wurde zum Ausgangspunkt der Bildungs-AG, die im Sommer 2017 zur eigenständigen Bildungssektion innerhalb der FAU Jena ausgebaut wurde. Die Bildungssektion hat seither Lohnforderungen zahlreicher studentischer Hilfskräfte der Uni Jena sowie von selbstständigen Honorarkräften durchgesetzt, konnte Anfang 2018 den widerrechtlichen Ausschluss aus dem Tarifvertrag von studentischen Arbeiter_innen, die an der Uni Jena für infrastrukturelle und nicht für wissenschaftliche Hilfsarbeit eingesetzt werden, eindämmen und hat im April 2018 die erste Ausgabe ihrer Betriebszeitung für die Uni Jena, die „Uni von Unten“ herausgebracht.
Seit 2017 haben wir die Lohnforderungen mehrerer studentischer Minijobber_innen in der Jenaer Kleingastronomie durchgesetzt und in dem Rahmen die Gastronomie-AG ins Leben gerufen.
Im November 2017 haben wir das FAU-Gewerkschaftslokal „Milly Witkop“ in der Bachstraße 22 in Jena eröffnet, die FAU Erfurt/Jena dabei in FAU Jena umbenannt und die Seite jena.fau.org gestartet.
Seit Anfang 2018 organisieren sich migrantische Arbeiter_innen aus der italienischen Gastronomie Weimars in der FAU Jena.
Zum Weiterlesen
Erich Mühsam in Meinigen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen. Die Bakuninhütte und ihr soziokultureller Hintergrund, Tagungsband vom Wanderverein Bakuninhütte e.V. und der Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V., herausgegeben von Dr. Andreas W. Hohmann, Lich / Hessen: Edition AV, 2015.
FAU. Die ersten 30 Jahre. Die Geschichte der Freien ArbeiterInnen Union von 1977 bis 2007, herausgegeben von der Arbeitsgruppe „30 Jahre FAU“, FAU-MAT / Syndikat A / Edition AV, 2008.
FAU Berlin: Make Syndicalism Great Again! Zehn Jahre Neustart der FAU Berlin – eine Bilanz, 20.03.2018, online: https://berlin.fau.org/news/make-syndicalism-great-again-zehn-jahre-neustart-der-fau-berlin-eine-bilanz
Klan, Ulrich / Nelles, Dieter: Es lebt noch eine Flamme. Rheinische Anarcho-Syndikalist/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus, Grafenau-Döffingen: Trotzdem-Verlag, 1. Auflage Oktober 1986.
Milly Witkop / Hertha Barwich / Aimée Köster / u.a.: Der Syndikalistische Frauenbund, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Siegbert Wolf (Band 17 der Reihe Klassiker der Sozialrevolte), Münster: Unrast-Verlag, 2007.
Rübner, Hartmut: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus [Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte, Band 5], Köln / Berlin: Libertad Verlag, 1994.