Stadtteil und Klasse

Einige Individuen aus der Peripherie

I. Einleitung

Das Elend der Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktions­weise herrscht, schlägt sich in den städtischen Wohnverhältnissen nieder. Der augenscheinlichste Ausdruck dessen ist die sich immer wieder vollziehende räumliche Tren­nung des Wohnortes nach Klassenzugehörigkeit (Soziale Segregation). Wer Privateigentum an Produktionsmitteln besitzt oder in exponierter Position verwaltet, hat das Privileg sich weitgehend frei auszusuchen, wo er oder sie wohnen will. Wer hingegen allein von dem Verkauf seiner oder ihrer Arbeitskraft abhängig ist, ist der Entwicklung des Arbeits- und Woh­nungs­marktes bzw. des Lohn- und Mietpreisniveaus ausgeliefert. Die soziale Zusammensetzung von Stadtteilen ist nur bedingt das Ergebnis freier Konsument*­Innen­wahl oder Ausdruck individueller Vorlieben. Sie ergibt sich über­wie­gend aus der Fülle des Geldbeutels und den Interessen des Kapitals.1

Im Folgenden möchten wir der Frage nachgehen, inwiefern sich diese sozialräumliche Trennung – abseits subjektiver Eindrücke und propagandistischer Behauptungen – als Ausdruck des Fortbestehens der Klassen­gesellschaft in Jena em­pirisch nachweisen lässt.2 Die­ses Erkenntnisinteresse stammt aus der Praxis, d.h. aus den Ver­su­chen gesellschaftlich wirkmächtige Politik gen Emanzipation zu be­trei­ben. Deren Ausgestaltung kann an dieser Stelle nicht diskutiert wer­den. Die hier dargestellten Ergeb­nisse dienen aber im besten Fall als Grundlage einer an die Gegenwart angepassten Klassenpolitik.

II. Gibt es soziale Segregation in Jena?

Für die Beantwortung der Frage nach sozialräumlicher Trennung in Jena ist es hilfreich, sich die Sozial­struk­tur der Haushalte in exem­pla­ri­schen Stadtteilen anzuschauen. Dafür wählten wir die Planungs­räume Lobeda und West/Zentrum.3

Lobeda hat den geringsten Fa­mi­lien­anteil im städtischen Vergleich, hingegen aber den größten Anteil an Migrant*Innen (21,5%), Er­werbs­losen (9,7%), Allein­er­zie­hen­den (5,5%) und Menschen ab 60 Jahren (32,6%).4 In diesen (und weiteren5) statistisch relevanten Kri­­terien für Prekarität6 weist Lo­be­da demnach den negativen Spit­zen­wert auf. Dieser Befund deckt sich mit den durchschnittlichen Miet­preisen. Diese betrugen in den Beständen des industriellen Woh­nungs­baus 2017 ca. 5€/m² und sind damit mit Abstand die günstigsten in Jena.7 Lobeda übernimmt damit die Funktion als „Sammelbecken“ all jener, die sich die Innenstadt nicht (mehr) leisten können.8 Zu­dem weist der vergleichsweise hohe Anteil an Jugend­arbeits­lo­sig­keit (4,7%)9 auf eine „Vererbung“ des sozialen Status hin. Dies ist wiederum Indiz dafür, dass sich soziale Segregation verstetigt.

Auch wenn es sich bei Lobeda im Vergleich zu anderen Planungs­räu­men / Stadtteilen um das prekärste Viertel Jenas handelt, hat die Prekarität absolut abgenommen.10 Der Grad der sozialen Durch­mi­schung ist in Lobeda – und dies scheint paradox – höher als in innerstädtischen Quartieren. Dies hängt damit zusammen, dass die Funktion als Sammelbecken der Prekarisierten nur eine von vielen ist. Weiterhin dient es als Wohn­raum­reservoir für all jene, die vorübergehend keinen (passenden) Wohnraum in der Innenstadt gefunden haben, obwohl sie sich diesen leisten könnten.11 Außerdem wohnt ein nicht unerheblicher Teil jener Menschen noch in Lobeda, die als hoch qualifizierte Arbeits­kräf­te in das damalige bürgerliche Kleinfamilienidyll sozialistischen Maßstabs gezogen sind. Dabei handelt es sich im Zuge der ge­sell­schaftlichen Umwälzungen Anfang der 90er Jahre um keinen mono­li­thi­schen Block. Nicht wenige dürften aber auf Grund ihrer Arbeit in der Industrie mittlerweile ver­gleichsweise hohe Renten erhalten.

Zuletzt – und dies dürfte die einflussreichste Komponente sein – betreiben Stadtverwaltung und die größten Wohnungseigentümer12 in Lobeda eine aktive Aufwertungs- und Bevölkerungspolitik. Ins­be­son­dere jenawohnen zog die Konse­quen­zen aus dem vorübergehend drohenden Verfall des Stadtteils zum „Ghetto“ in den 90ern. Das Unternehmen wacht über jede Woh­nungs­vergabe (und Unter­ver­mietung), indem es den sozialen Sta­tus der Bewerber*Innen über­prüft. So soll eine zu homogene Zusammensetzung von ganzen Aufgängen oder gar Blöcken ver­hindert werden.13 Soziale Durch­mischung ist für jenawohnen na­türlich kein Wert an sich.14 Im Zentrum der Aktivität stehen wirtschaftsrationale Überlegungen, denn die Rückentwicklung des Vier­tels zum „sozialen Brennpunkt“ würde hohe Leerstandsquoten, d.h. Mietausfälle und beschleunigten Wertverlust der Gebäude und des Bodens bedeuten.15 Der Lokalpolitik kommt die soziale Durchmischung ebenfalls entgegen, denn als Organ des lokalen Staates bildet diese die effektivste Prävention vor Protesten und Aufständen, die durch Kon­zen­tra­tion von Elend bedingt werden.16 Geschlossen arbeiten Kapital und Staat deshalb kontinuierlich an der Aufwertung des Viertels.17 Diese hat auf Grund der vorherrschenden Gebäudestruktur zwangsläufig immanente Grenzen. Als Platten­bauviertel wird Lobeda niemals Wohnort der Reichen sein. Die gezielte, wenn auch nicht von allen Akteuren intendierte Aufwertung stellt sich, vor dem Hintergrund der ständig drohenden Zunahme von Prekarisierung im Viertel, als Kampf gegen die schleichende Abwertung dar. Inwiefern dies trotz der mög­li­chen Zunahme des Verdrän­gungs­drucks aus der Innenstadt gelingt, bleibt abzuwarten.

Kontrastiert man die Entwicklungen in Lobeda nun mit dem Pla­nungs­raum West/Zentrum, so wird zwei­er­lei deutlich. Zum Einen herrscht in diesen Vierteln die Sozialstruktur betreffend eine viel größere Homo­genität als in Lobeda.18 Diese dürfte sich neben subjektiven Faktoren wie milieuspezifischer Distinktion19 vor allem aus dem objektiven Faktor Mietpreis er­ge­ben. Der für dieses Viertel typische Gründerzeitbau wies 2017 eine durchschnittliche Kaltmiete im Bestand von fast 7€/m², d.h. 2€/m² mehr als in Lobeda auf.20 Nimmt man die für den Wohnort noch entscheidendere Kategorie der Angebotsmieten21 zum Maßstab, so ist die Differenz zwischen Lobeda (6,31€/m²) und dem Westviertel (9,66€/m²) bzw. dem Zentrum (10,30€/m²) sogar noch größer.22 Zum Anderen weist der Pla­nungs­raum West/Zentrum in fast allen für Prekarität relevanten Statistiken zur Sozialstruktur eine positive Bilanz auf.23 Hier leben vor allem junge gut verdienende Familien und Studierende.24

Das vorhandene empirische Ma­terial beweist, dass es soziale Segregation in Jena gibt. Diese vollzieht sich vor allem innerhalb der verschiedenen Bestandteile der Arbeiter*Innenklasse. Fachkräfte und Studierende bevölkern in der Tendenz die innerstädtischen Quartiere, während prekarisierte Menschen in den Randgebieten wohnen. Dieser Befund entspricht dabei der bundesdeutschen Entwicklung der Wohn­ver­hält­nis­se.25 Obwohl die Prekarität in Lobeda absolut abgenommen hat, so nimmt sie doch relational zu. Denn die absolute Abnahme ist nicht auf eine ähnliche Verteilung prekarisierter Menschen auf die gesamte Stadt zurückzuführen, sondern auf den Zuzug nicht oder weniger prekarisierter Menschen aus der Innenstadt. Umgekehrt gibt es diese Wanderung hingegen nicht, was einerseits für die Kon­zen­tration prekarisierter Menschen in Lobeda (und Winzerla) spricht und für deren Wegzug aus Jena insgesamt.

III. Nimmt die soziale Segregation zu?

Deshalb ist eine weitere Frage von Relevanz: nimmt die soziale Segre­ga­tion in Jena zu oder ab? Aus­schlag­gebend für die Zunahmen der Konzentrationsprozesse anhand von sozialem Status oder Geld­beutel ist das Vorhandensein von Ver­­drän­gungsdruck. Ein verläss­licher Indikator hierfür ist die Entwicklung der Mietbelastungs­quote. Sie zeigt an, wieviel Prozent des Ein­kom­mens ein Haushalt für Miet- bzw. Wohnkosten aufbringen muss. Dabei gilt: je höher die Quote, desto größer der Ver­drän­gungs­druck. Für Jena lag sie im Jahr 2017 lediglich bei 22,8% (Brutto­kalt­miete)26 und damit unterhalb der als problematisch geltenden Gren­ze von 30%. Leider trügt der Schein, denn als abstrakter Durch­schnittswert verbirgt er die Betrof­fenheit konkreter Gruppen27. Für Haushalte mit geringem Ein­kom­men ist die Mietbelastung deutlich höher und liegt bei 31% (Brutto­kalt­miete) bzw. 41% (Warm­mie­te).28 29,9% der Haushalte sind gezwungen mehr als 30% ihres Einkommens für die Kaltmiete aufzubringen. Oberhalb der 40% sind es 11,9% der Haushalte.29 Mehr als 40% der Haushalte liegen damit im problematischen Bereich der Mietbelastungsquote. Obwohl die Mietbelastungsquote demnach im Durchschnitt keinen Ver­drän­gungs­druck anzeigt, ist dieser für 40% der Haushalte in Jena latent bis akut vorhanden.30 Die Bedin­gung­en für strukturelle Verdräng­ung und somit auch für die Zunah­me sozialer Segregation sind in Jena mehr als gegeben.31

Dies untermauert auch ein weiterer Indikator: die Mietpreise. Dass diese in Jena im regionalen Vergleich32 hoch sind und kontinuierlich stei­gen, ist ein offenes Geheimnis. Im Bestand erhöhten sie sich zwischen 2010 und 2016 von durchschnittlich 4,86€/m² auf 5,62€/m².33 Außerdem ziehen sie in den Beständen der Grün­derzeitbauten kräftiger an als in denen des industriellen Woh­nungs­baus.34 Allein dieser Umstand erzeugt einen leichten Ver­drän­gungs­druck. Da die Angebots­miet­en, wie bereits er­wähnt, zwischen diesen Vierteln noch stärker vari­ie­ren, werden Menschen mit geringer Wohnkaufkraft, die nicht schon auf Grund der Mietpreissteigerung im Bestand den Gang nach Lobeda oder Winzerla antreten mussten, dies spätestens bei einem not­wen­dig gewordenen Umzug tun.35 Prekarisierte Menschen sind dem­nach stark eingeschränkt, was die Wahl ihrer Wohnung anbelangt.36 Der ökonomische Zwang, in eines dieser beiden Viertel zu ziehen (oder dort wohnen zu bleiben), wird da­durch verschärft, dass der Sozial­wohnungsanteil stetig abnimmt. 2015 betrug er nur noch 1,15% des gesamten Wohnungsbestandes.37 Dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass sich im letzten Jahrzehnt zunehmend viele Menschen in Jena einem starken Verdrängungsdruck ausgesetzt sehen, verdeutlicht der Anstieg der Angebotsmieten zwischen 2004 und 2017 um 26%.38

Die Herrschenden halten dem Argument der rasanten Miet­preis­entwicklung nun jenes der Lohn­stei­gerung entgegen. Mit Vorliebe wird in Veröffentlichungen auf jene Zahlen hingewiesen, die eine Zu­nahme des gesellschaftlichen Reich­tums in Jena untermauern. So ist die Anzahl derer, die weniger als 1500€ im Monat verdienen zwi­schen 2011 und 2017 in Jena von 37% auf 20% gesunken.39 Diese Zahl korreliert mit einem kon­ti­nuier­lichen Rückgang der Ar­beits­losenquote bzw. einer Zu­nahme an sozial­ver­si­cherungs­pflichtigen Beschäftigten in den letzten Jah­ren.40 Die Darstellung suggeriert somit, dass jene Menschen, die bisher entweder auf Grund von Erwerbslosigkeit oder schlechter Entlohnung, eine Anstellung gefunden oder Lohnerhöhungen erhielten. Nur fehlt dafür jeglicher Beweis. Gemessen wurde nicht anhand des konkreten Falls, son­dern anhand des abstrakten Durch­schnitts. Die Steigerung des durch­schnittlichen Einkommens muss nicht gleichbedeutend sein mit der Zunahme des individuellen Ein­kom­mens. Was hier als Indiz der Sonnen­seiten von Jena verkauft wird, kann ebensogut Beweis seiner Schattenseiten sein. Schließlich liegt es im Bereich des Möglichen, dass die Zuwanderungsrate an qualifizierten Fachkräften mit entsprechender Bezahlung unge­fähr der Abwanderungsrate der Prekarisierten entspricht. Der Lebens­standard der Ein­woh­ner*­In­nen Jenas mag sich daher ver­bes­sert haben, vielleicht aber auch nur weil sich durch Zu- und Wegzug die Einwohner*Innenschaft von Jena geändert hat.41

Die vorliegenden Erhebungen zur Binnenwanderung in Jena lassen auf Grund ihrer Abstraktion vom sozialen Status ebensowenig klare Rückschlüsse zu. Wer hier aus welchem Grund wohin wandert, bleibt im Dunkeln. Wir müssen uns deswegen mit der Feststellung begnügen, dass die Miet­be­las­tungs­quote für niedrige Einkommen, sowie die rasante Mietpreis­stei­ger­ung der vergangenen Jahre hin­rei­chen­de Bedingungen für struk­tu­relle Verdrängungsprozesse und somit auch für die Zunahme sozialer Segregation sind. Es ist zu­dem in den nächsten Jahren nicht mit einer Abkehr von diesen Ent­wicklungen zu rechnen. Im Gegen­teil wird der Druck auf dem Jenaer Wohnungsmarkt weiter zuneh­men42, denn in naher Zukunft wird viel Kapital nach Jena fließen. Auf Grund der Innovationen im Bereich der optischen Industrie gehört Jena zu den Globalisierungsgewinnern, was insbesondere innerhalb der Städtekonkurrenz Thüringens ein Alleinstellungsmerkmal sein dürfte. Jena ist für verschiedene Kapital­fraktionen lukrativ. Unter diesem Stern steht der Neubau des Campus am Inselplatz, wie auch des Tech­no­lo­giecampus von Zeiss auf dem ehemaligem Schott-Gelände. Bei­des wird wiederum mehr quali­fi­zier­te Fachkräfte und deren Familien anlocken. Die kommunal prote­gier­te private Wohnbaupolitik ent­spricht dieser Prognose völlig. Ge­plant und gebaut wird vorrangig im hoch- bis mittelfristigem Segment und in der Innenstadt.43 Die Kom­mu­ne profitiert sowohl von höheren Geberbesteuern als auch von der höheren Kaufkraft der neuen Ein­woh­ner*Innen. Die weniger zah­lungs­kräftige Bevölkerung wird dadurch mehr und mehr an den Stadtrand oder aus Jena heraus verdrängt werden.

IV. Und nun?

Dieser Text stellt eine erste Annäherung an eine notwendige tiefer gehende Analyse von Wohn­ort und Klassen­zu­sam­me­nsetzung dar. Dies erachten wir als essen­tiel­len Bestandteil einer politischen Organisierung entlang von Stadt­teilen, zumindest wenn diese ers­tens klassenkämpferisch und zwei­tens erfolgreich in dieser Aus­rich­tung sein will. Sofern das Projekt Stadtteilpolitik hinsichtlich der Verankerung im proletarischen Alltag strategisch zielführend ist, braucht es eine empirische Aus­einan­dersetzung, um zu klären, welche Stadtteile überhaupt in Frage kommen. Neben der Heraus­forderung der begrifflichen Bestim­mung44 stellte sich daher vor allem das Problem der mangelnden sta­tistischen Erhebungen. Diese Lüc­ken können leider oft nur durch akademische, kommunale oder wirtschaftliche Akteure gefüllt werden. In anderen offenen Punk­ten ist hingegen auch die Initiative der politisch im Stadtteil aktiven Menschen gefragt. So ist der Versuch die objektive Klassen­zu­sammensetzung von Stadtteilen zu erfassen das Eine, die Erforschung und Förderung subjektiven Klas­sen­bewusstseins das Andere. Dies könnte in etwa durch agitatorische Instrumente wie jenes der Akti­vie­renden Befragung geschehen. Dies wäre zugleich die Möglichkeit eines ersten Kontakts im Viertel. Zu fra­gen wäre weiterhin nach den kon­kre­ten Problemen und Bedürf­nissen, nach der Identifikation mit dem Stadtteil. Gibt es eine Kiez­mentalität oder informelle so­li­darische Netzwerke? Und zu­aller­letzt: wie steht es um die Or­ga­nisie­rungsmacht im Viertel?45 Dies alles ließe sich thematisieren, am Besten in der Auseinandersetzung vor Ort!

Dieser Text stellt eine erste Annäherung an eine notwendige tiefer gehende Analyse von Wohn­ort und Klassen­zu­sam­me­nsetzung dar. Dies erachten wir als essen­tiel­len Bestandteil einer politischen Organisierung entlang von Stadt­teilen, zumindest wenn diese ers­tens klassenkämpferisch und zwei­tens erfolgreich in dieser Aus­rich­tung sein will. Sofern das Projekt Stadtteilpolitik hinsichtlich der Verankerung im proletarischen Alltag strategisch zielführend ist, braucht es eine empirische Aus­einan­dersetzung, um zu klären, welche Stadtteile überhaupt in Frage kommen. Neben der Heraus­forderung der begrifflichen Bestim­mung44 stellte sich daher vor allem das Problem der mangelnden sta­tistischen Erhebungen. Diese Lüc­ken können leider oft nur durch akademische, kommunale oder wirtschaftliche Akteure gefüllt werden. In anderen offenen Punk­ten ist hingegen auch die Initiative der politisch im Stadtteil aktiven Menschen gefragt. So ist der Versuch die objektive Klassen­zu­sammensetzung von Stadtteilen zu erfassen das Eine, die Erforschung und Förderung subjektiven Klas­sen­bewusstseins das Andere. Dies könnte in etwa durch agitatorische Instrumente wie jenes der Akti­vie­renden Befragung geschehen. Dies wäre zugleich die Möglichkeit eines ersten Kontakts im Viertel. Zu fra­gen wäre weiterhin nach den kon­kre­ten Problemen und Bedürf­nissen, nach der Identifikation mit dem Stadtteil. Gibt es eine Kiez­mentalität oder informelle so­li­darische Netzwerke? Und zu­aller­letzt: wie steht es um die Or­ga­nisie­rungsmacht im Viertel?45 Dies alles ließe sich thematisieren, am Besten in der Auseinandersetzung vor Ort!

 

Fußnoten

(1) Einerseits wälzt die Kapitalfraktion, die mittels der aus dem Privateigentum an Immobilien stammenden Grundrente nach Profite strebt, beständig die Sozialstruktur von Stadtteilen um. Andererseits ist es jene Kapitalfraktion, die von der unmittelbaren Mehrwertproduktion lebt, die durch ihre Präferenzen für Produktionsstandorte Wellen der Stadtteilauf- und Entwertung erzeugt.

(2) Dieser Umweg des Nachweises ist notwendig, da für die naheliegende Beweisführung anhand der Art des Arbeitsverhältnisses keine stadtteilbezogenen Daten vorliegen.

(3) Das zu Grunde liegende Datenmaterial stammt zum Einen aus statistischen Erhebungen der „Bundesagentur für Arbeit“ und zum Anderen aus Studien, die von der Stadtverwaltung Jena in Auftrag gegeben wurden. Die Erhebungen wurden zwischen 2015 und 2018 durchgeführt. Zahlreiche Statistiken beziehen sich auf sogenannte Planungsräume, die weder mit administrativen noch mit lebensweltlichen Stadtteilen und Vierteln identisch sind. Exemplarisch sind diese Stadtteile, weil sie die in Jena vorhandenen Gegensätze der Sozialstruktur idealtypisch darstellen.

(4) Vgl. Stadt Jena – Dezernat Stadtentwicklung und Umwelt (Hg.): Perspektiven für Jena. Trends und Fakten zum Wohnungsmarkt (Nr. 2, 11/2018), S. 1.

(5) Vgl. Stadt Jena – Fachbereich Stadtentwicklung und Stadtplanung (Hg.): Wohnstadt Jena. Stadtumbau und kommunale Wohnraumversorgung, Jena 2017, Teil C, S. 13f.

(6) Unter Prekarität verstehen wir den Ausschluss von der Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum und Leben. Dieser kann ebenso nur vorübergehend wie auf bestimmte Bereiche begrenzt erfolgen. Der Begriff wird hier als Subkategorie zur Arbeiter*Innenklasse eingeführt, um die historisch gewachsene Binnendifferenzierung innerhalb dieser darstellbar zu machen.

(7) Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil A, S. 33.

(8) Was die Herrschenden auch gar nicht bestreiten. So ließ sich Denis Peisker (seinerzeit Stadtentwicklungsdezernent, Bündnis90/Die Grünen) vor kurzem im Neuen Deutschland indirekt zitieren: „Wer sich nicht auf eine bestimmte Lage oder Wohnung versteift und wer bereit ist, nach Lobeda oder in das andere große Plattenbaugebiet, Winzerla, zu ziehen, findet in Jena sehr wohl eine bezahlbare Wohnung.“. Sebastian Haak: Für zwölf Euro Kaltmiete in Jena. Große Nachfrage nach exklusiven Wohnlagen, In: Neues Deutschland, 27.03.2018.

(9) Vgl. Stadt Jena: Perspektiven für Jena, Nr. 2, S. 1.

(10) Vgl. ebd., S. 1f. Natürlich ist es hier sehr entscheidend, welchen Zeitraum man als Vergleichswert nimmt. Die kommunalen Statistiken beziehen sich in der Regel auf die Sozialstruktur der 90er Jahre, als Lobeda mit hohen Abwanderungs- und Leerstandsquoten sowie Zerfallserscheinungen kämpfte. Würde man die Sozialstruktur der 70er oder 80er Jahre zum Vergleichswert erheben, kämen mit Sicherheit ganz andere Ergebnisse zum Vorschein, da Lobeda in DDR-Zeiten das Viertel der besser gestellten Fachkräfte war.

(11) Es gibt eine statistisch signifikante Binnenwanderung von Lobeda in die Innenstadt (Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil C, S. 13.). Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um Studierende handelt, die oft die ersten Semester ihres Studiums auf den vorhandenen Leerstand in Lobeda angewiesen sind.

(12) Das sind: jenawohnen GmbH und die Wohnungsgenossenschaft „Carl-Zeiss“. Weitere Eigentümer sind die Heimstätten-Genossenschaft Jena e.G, die Örtliche Wohnungsgenossenschaft, die Wohnungsgenossenschaft Lobeda-West, die Wohnungsgenossenschaft „Unter der Lobdeburg“, das Studierendenwerk Thüringen, sowie Vonovia.

(13) Wobei hier auch unterstellte oder wirkliche ethnische Konflikte eine Rolle spielen.

(14) Soziale Durchmischung hat insbesondere in sozialreformerischen Kreisen einen wohltuenden Klang. Stets ließ sich aber beobachten, wie der Begriff zur Legitimation von Verdrängung in Anschlag gebracht wird. Siehe: Andrej Holm: Soziale Mischung. Zur Entstehung und Funktion eines Mythos, In: Forum Wissenschaft (01/09), S. 23-26.

(15) Das Unternehmen erhält seine größten Profite aus den Beständen des industriellen Wohnungsbaus.

(16) Das Förderprogramm „Soziale Stadt“ stellt in etwa so einen staatlichen Zugriff auf „benachteiligte“ Viertel dar. Mittels Quartiersmanagement und Stadtteilbüros sollte die Bevölkerung aktiviert werden und ihr heimisches Viertel als lebenswert erfahren. Der sozialreformerische Duktus der Akteure vor Ort ist dabei keineswegs ein Schauspiel. Hinter ihrem Rücken und durch ihr Tun vollzieht sich jedoch eine schleichende und sanfte Verdrängung und / oder die Befriedung der Bevölkerung trotz Abbau des Sozialstaats. Zur Kritik am Programm „Soziale Stadt“: Krummacher; Kulbach; Waltz; Wohlfahrt: Soziale Stadt, Sozialraumorientierung, Quartiersmanagement. Strategie für einen lokalpolitisch flankierten Sozialstaatsabbau oder Revitalisierung von sozialer Stadtentwicklung?, 2003, http://www.stadtteilarbeit.de/themen/theorie-stadtteilarbeit/verbindendestrennendes/113-sozialestadtsozialraumorientierungquartiersmanagement.html, zuletzt abgerufen am 11.07.18.

(17) Sei es im Zuge von Imagekampagnen: die Stadt Jena stellte die Entwicklungslinien Lobedas im Rahmen der Weltausstellung Expo 2000 unter folgendem Label dar: „Jena-Lobeda – Von der Plattenbausiedlung zum grünen Universitätsstadtteil“. Oder sei es in Form von Investition in Infrastruktur und Neubau: jenawohnen wirbt für einen sich im Neubau befindenden Gewerbe-, Büro- und Wohnkomplex in Lobeda-Ost mit dem Titel „Erstes Hochhaus nach der Wende in Jena“. Die 13 Wohneinheiten mit Panoramablick werden sich jedoch nur Besserverdienende leisten können.

(18) Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil C, S. 34f.

(19) Zwar nutzt der Wohnort West/Zentrum mit wenigen Ausnahmen nicht als Prestigeobjekt, doch schwingt mit dem Wohnort Lobeda oft ein soziales Urteil mit. Die Distinktion besteht deshalb nicht darin, in der Innenstadt zu wohnen, sondern nicht am Rand bzw. in Winzerla / Lobeda zu wohnen.

(20) Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena A, S. 33.

(21) Preis zu dem die Wohnungen auf dem Markt angeboten werden.

(22) Vgl. https://www.wohnungsboerse.net/mietspiegel-Jena/9092, zuletzt abgerufen am 04.06.2017.

(23) Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil C, S. 35. Die einzige Abweichung ist der hohe „Ausländeranteil“, der in anderen Planungsräumen der Innenstadt weitaus geringer ist.

(24) Der hohe Anteil an Studierenden macht es schwierig, dem Viertel eine eindeutige Einordnung innerhalb der Klassenverhältnisse zu geben. Gemessen am Einkommen gelten Studierende als prekär. Auf Grund des hohen sozialen und kulturellen „Kapitals“ handelt es sich bei vielen Studierenden aber um die Eliten von Morgen.

(25) Auf die historische Entwicklung der Wohnverhältnisse kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Erwähnt sei lediglich, dass die gleiche Spaltung der Arbeiter*Innenklasse, die sich im Zuge der fordistischen Modernisierung in der Arbeitswelt vollzog, sich auch in den Wohnverhältnissen niederschlägt. Die kapitalistische Stadt ist daher nicht mehr zweigeteilt, wie in frühkapitalistischen Zeiten, sondern dreigeteilt, in „Gated Communities“, Quartiere der Mittelschichten und jene der Prekarisierten.

(26) Vgl. Hans-Böckler-Stiftung (Hg.): Wohnverhältnisse in Deutschland. Eine Analyse der sozialen Lagen in 77 Großstädten. Bericht aus dem Forschungsprojekt „Sozialer Wohnversorgungsbedarf“. Berlin / Düsseldorf 2017, Datenblatt Mietbelastungsquote, S. 2, https://www.boeckler.de/pdf_fof/99312.pdf, zuletzt abgerufen am 11.07.18.

(27) Insbesondere Alleinstehende, Alleinerziehende, Erwerbslose, ALGII-Bezieher*Innen, Geflüchtete und Rentner*Innen.

(28) Vgl. Stadt Jena, Perspektiven für Jena Nr. 2, S. 1f.

(29) Vgl. Hans-Böckler-Stiftung, Wohnverhältnisse, Datenblatt, S. 2.

(30) Hier offenbart sich, wie verschleiernd abstrakte Statistiken in Bezug auf die soziale Wirklichkeit wirken können und wie es möglich ist, dass die Herrschenden – abseits fehlerhafter Erhebungen – stets die Faktizität von Zahlen auf ihrer Seite haben.

(31) Leider liegen uns keine Vergleichsdaten vor, aus denen wir die Entwicklung der Mietbelastungsquote ableiten könnten. Zudem fehlt es auch hier an einer Aufschlüsselung anhand von Stadtteilen. Demnach bleibt offen, wo der Großteil der stark belasteten Haushalte wohnt, d.h. auch von wo er möglicherweise verdrängt wird.

(32) In Thüringen kostete der Quadratmeter für eine im März 2017 auf dem Markt angebotene 60m²-Wohnung im Durchschnitt 5,55€, in Jena 7,88€. Nimmt man Wohnungsbestände als Maßstab, die noch weniger auf dem Markt zu finden sind, so ist die Differenz noch größer. Vgl. https://www.wohnungsboerse.net/mietspiegel-Jena/9092, zuletzt abgerufen am 04.06.2017.

(33) Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil A, S. 31.

(34) Vgl. ebd., S. 33.

(35) Der durchschnittliche Neuvermietungspreis liegt in Jena bei 8,82€/m². Vgl. https://www.wohnungsboerse.net/mietspiegel-Jena/9092, zuletzt abgerufen am 04.06.2017. Für Erstvermietungen im Neubau liegt er sogar bei über 10€/m². Vgl. Haak, Für zwölf Euro Kaltmiete in Jena. Gründe für Umzüge können höchst verschieden sein, in etwa Familien- bzw. Haushaltszuwachs, Trennung, Kündigung.

(36) Dies gilt insbesondere für Menschen, die auf ALGII-Bezug angewiesen sind, denn lediglich in Lobeda und / Winzerla lassen sich noch zahlreiche Wohnungen finden, die den Richtlinien der Stadt Jena zu den „Kosten der Unterkunft“ entsprechen. Zum Stichtag 31.12.2017 waren 7360 Personen in Jena auf ALGII angewiesen, davon 47,9% Frauen, v.a. alleinerziehende Mütter, 25,7% Jugendliche und Kinder und ca. 20% trotz Lohnarbeit! Vgl. ZDS, In: Ostthüringer Zeitung (22.05.2018), S.21.

(37) Vgl. unveröffentlichte Statistik.

(38) Errechnet aus den Daten von https://www.wohnungsboerse.net/mietspiegel-Jena/9092, zuletzt abgerufen am 04.06.2017.

(39) Vgl. Stadt Jena, Perspektiven für Jena, Nr. 2, S.1.

(40) Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil A, S. 46f.

(41) Die Statistiken zur Binnen-, Zu- und Abwanderung geben leider keinerlei Aufschluss über den sozioökonomischen Status und die Gründe der Umziehenden. Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil C, S. 11-43. Lebensstandardsverbesserungs- und Austauschthese verbleiben daher auf einem ähnlich spekulativem Niveau.

(42) An verschiedenen Stellen erreichte dieser Druck Menschen aus der Mittelschicht. Insbesondere Familien, selbst jene mit doppeltem Einkommen, können sich so manche Innenstadtlage mittlerweile nicht mehr leisten. Die Wohnungsfrage drängt sich als soziale Frage somit zunehmend allen Bestandteilen der Arbeiter*Innenklasse auf. In dieser Entwicklung verbirgt sich sowohl die Chance der Politisierung und Solidarisierung als auch die Gefahr zunehmender Konkurrenz in Verteilungskämpfen um künstlich verknappte Güter.

(43) Vgl. Wohnstadt Jena, Teil B, sowie Analyse & Konzepte: Gutachten über die Wirksamkeit der Wohnungsmarktinstrumente in Jena, Hamburg 2015.

(44) Begriffe wie Klasse, Prekarität, Kapitalfraktion, Verdrängung bleiben auf Grund der Kürze des Textes notwendigerweise unterkomplex bestimmt. Nichtsdestotrotz bleibt für uns nach dem Fertigstellen dieser Zeilen wieder einmal die Erfahrung, dass sich die genaue Bestimmung von Begriffen in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und sei es nur ihre quantitativ-empirisch Darstellung aufdrängt. Viele Fragen sind uns überhaupt erst in den Sinn gekommen, als wir unsere politisch vertrauten Begriffe mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontierten.

(45) Für Lobeda und Winzerla ließe sich in etwa festhalten, dass die Organisierungsmacht trotz Prekarisierungstendenzen hoch ist. Zum Einen wohnen hier sehr viele Menschen auf engstem Raum und mit immerhin zusammen ca. 38000 Bewohner*Innen mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung. (Vgl. Stadt Jena, Wohnstadt Jena, Teil C, S. 13 u. 19.). Die Möglichkeit für Kontakt ist somit gegeben. Weiterhin wohnen viele dieser Menschen bei ein und demselben Wohnungsunternehmen, was in der Innenstadt nicht der Fall ist. Dort ist die Eigentümer*Innenstruktur viel fragmentierter. (Vgl. Stadt Jena, Perspektiven für Jena, Nr. 2, S. 2). Zumindest in Kämpfen rund um die Wohnverhältnisse oder um die Versorgung mit sozialer Infrastruktur im Stadtteil sind die Organisierungs-bedingungen sehr gut. Hinzu kommt, dass die Stadtteile bisher kaum von Akteuren, die an einer gesellschaftlichen Umwälzung gen befreite Gesellschaft interessiert sind, bearbeitet werden. Es gibt wenig organisierte und organisierende Aktivitäten in dieser Hinsicht. Das heißt eine Menge an Organisierungspotenzial liegt brach, denn Unzufriedenheit ob der Situation im und der Entwicklung des Stadtteil(s) ist zweifelsohne vorhanden.