Der 2. Oktober 1990 in Jena

übernommen von zweiteroktober90.de

Ende September 2020 hat die Initiative zweiteroktober90.de eine Dokumentation über rechte Angrif­fe um den Tag der Wiederver­eini­gung 1990 veröffentlicht. Wir doku­mentieren im Folgenden die Selbst­darstellung der Gruppe, den Bericht über die Situation in Jena und das Interview mit Ovidio, der damals in der Jenaer Antifa- und Hausbe­set­zer­szene aktiv war.

Über zweiteroktober90.de

Mit dem Online-Projekt zweiter­oktober90 dokumentieren wir neo­nazistische Angriffe, die am 2. oder 3. Oktober 1990, also direkt vor oder an dem Tag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, statt­gefunden haben.

Mit dem Projekt möchten wir auf­zeigen, dass der Tag der Vereini­gung mit gewalttätigen, teils pogromartigen Ausschreitungen gegen Linke und Migrant:innen einherging, die medial und v.a. überregional wenig Erwähnung fanden und darum weitgehend unbeachtet blieben. Wir denken, dass die Beschäftigung mit diesen Angriffen dabei helfen kann, die Entwicklung der neonazistischen Gewalt in den 1990er Jahren, deren nicht nur zeitlichen Anfang sie markieren, besser zu verstehen. Darüber hinaus möchten wir den Betroffenen der Gewalt des 2. und 3. Oktober 1990 die Möglichkeit geben, nach nunmehr 30 Jahren gehört zu werden.

Für unsere Recherche haben wir mit Zeitzeug:innen gesprochen, alte Zeitungen durchforstet und antifaschistische, zivilgesell­schaftli­che und wissenschaftliche Publi­kationen gelesen. Damit ist dieses Projekt jedoch keinesfalls abge­schlossen, sondern kann und soll beständig ausgebaut werden. Bei Kenntnis von weiteren oder Infor­ma­tionen zu bereits aufgeführten Vorfällen kontaktiert uns gern.

Was ist in Jena passiert?

Das Haus in der Karl-Liebknecht-Straße 58 in Jena-Ost war im Feb­ruar 1990 besetzt worden. In der KL 58 hatte anschließend das Auto­nome Jugendzentrum seinen Ort, das sich am 30. Mai 1990 offiziell ins Vereinsregister eintragen ließ.

Die KL 58 wurde schnell zur Ziel­scheibe von Neonazi-Angriffen. Auf der Internetseite der Gruppe „Info­laden Schwarzes Loch“ hieß es dazu:

„diese [Neonazis] beteiligten sich sofort an überfällen, z.b. zu himmel­fahrt 1990 auf das besetzte haus karl-liebknecht-str. 58. an diesem tag überfiel eine gruppe von 25 nazis das haus und zerstörte ein teil der einrichtung. die besetzerInnen wurden nicht verletzt, weil sie im garten saßen und nicht sofort bemerkt wurden. auch war die polizei relativ schnell vor ort und nahm fast alle nazis fest, die gefesselt auf einen lkw geworfen(!) wurden. am 20.4.1990 fand eine größere ‚führer­geburts­tags­feier‘ in einer laubenpieper­kneipe am birnstiel statt. es waren etwa 100 nazis aus jena beteiligt und eine reichskriegsfahne gehißt. etwa 40 von ihnen zogen richtung jena-ost zum besetzten haus. aller­dings war die polizei schneller und nahm an einer straßensperre 30 von 40 nazis fest. da das in der nähe der kl 58 geschah, hatte mensch vom dach des hauses einen groß­artigen ausblick auf das geschehen…“¹

Auch zum 2. Oktober 1990 war ein Neonazi-Angriff in Jena angekündigt worden. Statt ausreichend Schutz zu organisieren, rieten die Behör­den den Besetzer:innen, ihr Haus zu verlassen: „Am 2. Oktober dann, am Abend vor der deutschen Ein­heit, verließen die ‚Autonomen‘ ihr Domizil. Der Dezernent Stephan Dorschner riet ihnen dazu, da Magistrat und Polizei erneut Gewalttaten befürchteten.“² Die Besetzer:innen aus der KL 58 entschieden sich dazu, ihr Haus bestmöglich zu verbarrikadieren und sich dem Schutz eines anderen besetzten Hauses, des Kassablanca im Villengang 2a, anzuschließen.

Die Neonazis griffen am Abend des 2. Oktober 1990 die KL 58 an. Wie viele es waren, ist nicht bekannt, aber aus den vergangenen Angriffen lässt sich eine Zahl von um die 25 annehmen. Sie drangen in das Haus ein und verwüsteten es. In der TLZ heißt es drei Wochen später:

„Drinnen sieht es furchtbar aus. Zerschlagene Möbel, zerstörte Treppengeländer, ein Wust von durcheinandergeworfenen Klei­dungsstücken, umherliegende Bücher, Steine, Scherben – nichts geht mehr in diesem Haus, das eigentlich einmal eine Stätte der Kommunikation werden sollte und in Ansätzen auch war.“³

Nach der Verwüstung durch die Neonazis wurde das besetzte Haus in der Karl-Liebknecht-Straße 58 aufgegeben.

Interview mit Ovidio

zweiteroktober90: Hallo Ovidio, schön, dass wir das Interview machen können. Es geht um den Angriff auf das besetzte Haus in Jena in der Karl-Liebknecht-Straße 58 am 2. Oktober 1990. Wir fangen erst mal ein bisschen weiter davor an: Mich würde interessieren, wie du zu diesem besetzten Haus dazu gekommen bist, was da so für Leute dabei waren, worum es euch ging und was ihr in diesem besetzten Haus gemacht habt.

Ovidio: Also richtig ging das Ganze erst nach der Wende los. Da ist mein bis dahin existierender Freun­deskreis zusammen­ge­bro­chen. Ich hatte bis zur zehnten Klasse in der Schule und meiner Klasse einen fes­ten Freundeskreis. Wir haben auch viel gemacht. Nach der Wende kam es aber bei den ersten zwei Treffen – also ich habe mich dann, glaube ich, nur noch zweimal mit denen getroffen – immer wieder zu An­fein­dungen und dummen Sprü­chen, wie „ob ich nicht irgendwie wieder nach Hause will“ oder „was ich überhaupt noch in Deutschland suche“. Das war mir dann zu blöd und ich habe angefangen, mir einen anderen Freundeskreis zu suchen. Da bin ich in eine Disko mal gegan­gen in Burgau und habe da Leute gesehen mit Aufnähern (lacht). „Gegen Nazis“-Aufnäher und sowas. Ja, das fand ich halt ganz okay und habe den erstbesten da ange­quatscht und gesagt: „Wo gibt es sowas? Kann ich da irgendwie auch mitmachen oder halt Kontakt auf­neh­men?“ Da hat er mich einge­laden zu einem offenen Plenum. Ich hatte keine Ahnung, was das ist. Aber ich bin mal hin die Woche da­rauf und habe mich da in das Ple­num mit reingesetzt (lacht) und das fand ich ganz interessant – auch die Leute. Vor dem Plenum war eine Lese­stunde, da hat jemand ein Buch vorgestellt, was er vorher gele­sen hat, das waren meistens politische Inhalte. Ob das nun Marx war, Bakunin oder andere, wie Mühsam. Danach war Plenum und da wurde so die aktuelle Situation besprochen, Faschoübergriffe und die Wendezeit: Was passiert da überhaupt? Ja die Leute sind weggezogen – halb Jena stand gefühlt leer. Darüber wurde sich unterhalten, und das fand ich inte­ressant. Ich fand es aber auch sehr schön, dass ich auch nicht schief angeguckt wurde. Es war scheiß­egal, wie ich angezogen war. Es war eigentlich auch egal, was ich dazu zu sagen hatte, was für einen Back­ground ich hatte. Ich wurde ledig­lich komisch angeguckt, wegen meiner Mitgliedschaft im chile­ni­schen kommunistischen Jugend­ver­band. Dann bin ich immer regel­mä­ßig da hin und ein halbes Jahr spä­ter bin ich eingezogen. Also dann habe ich irgendwann mal gesagt, dass ich dort einziehen möchte als ein Zimmer frei wurde. Dann haben sie mir das Zimmer gegeben und ich habe meine sieben Sachen bei meinen Eltern gepackt und bin da hingezogen. Das war irgendwann im Sommer 1990. Da bin ich dann da rein.

zweiteroktober90: Also die Treffen und Lesestunden waren auch im besetzten Haus?

Ovidio: Ja, genau.

zweiteroktober90: Du hast schon erwähnt, dass du auch als Chilene ange­macht wurdest von deinen ehemaligen Freunden. Es gab ja dann schon ab Ende der 80er spätestens in Jena auch schon Neonazis und –

Ovidio: Also die Faschos habe ich schon vorher kennengelernt und gesehen. Da habe ich schon dumme Sprüche und so kassiert. Schon als Grufti und halt auch als – ja, man wusste halt, dass ich der Ausländer bin. In meiner Schule selbst war das eigentlich nicht so, sondern mehr aus anderen Schulen. Da waren halt so Leute, denen du begegnet bist und die dir plötzlich einen Spruch so „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ und ähnliche Parolen entgegengerufen haben.

zweiteroktober90: Also zur Wende­zeit haben die Faschos ja richtig Auftrieb gehabt. Es gab ja auch schon vorher Angriffe auf besetzte Häuser oder Räumlich­keiten in Jena. Kannst du da ein bisschen erzählen, wie sich das entwickelt hat vor der Wieder­vereinigung?

Ovidio: Wie gesagt, bis zur Wieder­vereinigung habe ich eigentlich sehr wenig damit zu tun gehabt bis auf halt: „Da kommen Faschos!“ – und dann sind wir weggerannt. Richtig mit Nazis in Berührung gekommen bin ich eigentlich nach der Wende mit den Leuten aus dem Haus. Dass wir durch die Straßen Richtung JG oder sonst irgend­welchen Treffpunkten – Rosenkeller war es damals auch – gelaufen sind und da plötzlich Autos vor uns hielten oder eine größere Gruppe kam und es dann halt Auseinander­setzungen gab. Wir sind dann auch immer weniger gerannt, sondern haben halt richtig die Auseinander­setzung dann gesucht. Es war aber immer eine Zeit, wo wir immer die Augen offen halten mussten. Also da hat man so wirklich auch die Autos taxiert, auch die Leute, die vorbeigingen. Man hat aufgepasst im Endeffekt. Man musste aufpas­sen, weil urplötzlich – aus dem Nichts sozusagen – irgendwas pas­sie­ren konnte. Das war immer all­ge­genwärtig. Das war eigentlich tagtäglich, dieses Rennen und Ja­gen – gejagt werden oder selber jagen. Davon erzähle ich auch immer gerne eigentlich, weil wir in Jena anders umgegangen sind da­mit. Wir sind sehr offensiv dann geworden. Ab 1993, sage ich im­mer, konntest du als Punker, Schwuler oder sonst irgendwas eigent­lich durch die Innenstadt laufen ohne dass dich ein Nazi angemacht hat, weil wir den schon vorher weggeboxt haben.

zweiteroktober90: Ein Angriff oder eine brenzlige Situation war ja jetzt das, worum es auch heute geht – der 2. Oktober 1990. Da wurde das besetzte Haus in der Karl-Lieb­knecht-Straße verwüstet. Erzähle mal: Wie ist dieser Tag abgelaufen? Wie habt ihr euch darauf vorbe­reitet? Warum war euch klar, dass was passieren wird? Was hat sich so herumgesprochen und wie seid ihr dann damit umgegangen?

Ovidio: Also einmal haben die Fa­schos ja ganz offen gesagt: „Am 3. Oktober stürmen wir euer Haus.“ Und wir haben uns auch darauf vorbereitet, auch in den Plena. Wir waren mit den Freiräumen, die wir hatten – also JG und insbesondere mit dem Kassablanca -, sehr eng verwoben, und wir konnten aber halt nicht alle Objekte auf einmal schützen. Das Haus hatten wir eigentlich ziemlich gut verbar­ri­ka­diert. Also da kam man nicht so schnell rein. Auch wenn es schon im Vorfeld immer mal Angriffe gab, wo auch Faschos reingekommen sind, und Leute lebensgefährlich über Dächer flüchten mussten, und sich dazu an Regenrinnen lang gehan­gelt haben. Also das war nicht ohne. Aber wir hatten dann weitere Sicher­heitsmaßnahmen ergriffen, dass die Leute halt nicht so einfach reinkommen. Das ist leider natürlich nicht so gelungen.

Wir hatten uns für den 2. Oktober darauf geeinigt, dass wir ins Kassa­blanca gehen. Dort haben wir über CB-Funk mit Leuten kommuniziert, die unterwegs waren und geguckt haben, wo welche Ansammlungen waren, wo und wohin welche Grup­pen sich wie bewegt haben. Wir wussten aber, dass wir nicht die gesamte Fläche verteidigen können. Wir mussten uns halt darauf beschränken, wichtige Objek­te für uns zu erhalten und da niemanden reinzulassen. Das hat dann auch ganz gut geklappt am Kassablanca. Das war damals noch im Villengang 2a. Für den 2. Okto­ber habe ich tagsüber eigentlich gar nicht so viele Erinnerungen. Ich glaube, wir haben da viel logistisch überlegt, wie, wer, wann, wo, wel­che Schicht übernimmt; dass ich am CB-Funkgerät bin und den Kontakt halte zu allen; die Fre­quenz auch freigehalten habe; mich da auch mit Hobby-CB-Fun­kern manchmal auch gestritten hab. Die kamen dann auch vor das Kassablanca, weil sie halt heraus­gekriegt haben, wo wir sitzen. Aber es ist von der Seite eigentlich gar nichts passiert.

Das waren die Faschos, die dann nach Jena-Ost sind. Wer das genau war, keine Ahnung. Wir konnten uns nur vorstellen, wer dabei war. Zumindest ich konnte mir das vorstellen. Andere wussten es viel­leicht von Gesprächen oder irgend­welchen Informationen, die sie erhalten haben. Aber ich habe mei­nes Erachtens keine Ahnung, wer da eigentlich so dabei war. Ich kann mir nur denken: so diese Alt­nazis um Beythien, Kapke, Kräfte und wie sie alle hießen diese Hors­te, und heißen! Also aus Lobeda waren viele. Aber halt auch aus Jena-Nord. Der Kräfte kam ja aus Nord, glaube ich. Oder beim West­bahnhof hat der irgendwo gelebt. Wer da noch dabei war – keine Ahnung. Ich weiß nur, die haben uns die Hütte ganz schön demo­liert. Eigentlich fast unbewohnbar gemacht.

Was mich sehr erstaunt hat, war, dass keiner eigentlich so richtig den Willen hatte, das Ding noch­mal aufzubauen. Zu der Zeit waren es halt auch sehr wenige, die wirk­lich da drinne noch gelebt und gewohnt haben. Das war schade. Das fand ich persönlich auch sehr schade. Wir mussten ja danach ins – wir nannten es „Exil“ – Kassa. Die haben uns da aufgenommen und haben uns eine Räumlichkeit ge­ge­ben, wo wir alle in einem Saal sozusagen geschlafen haben. Das war dann auch nicht so prickelnd, weil es keine Privatsphäre gab usw. Aber es war ja erst mal eigentlich für den Notfall gedacht; als Zwi­schen­station. Für mich persönlich hat das da mit der Besetzerei eigentlich aufgehört. Ich habe na­tür­lich weiterhin Kontakt. Neben der KL 58 hatten sich ein paar Punks die Brändtsrömstraße ange­eignet. Das war erst so ein Pun­ker­mädel. Ich glaube, die kam aus Naumburg oder so. Das war auch völlig unorganisiert und die sind da einfach in ein leerstehendes Haus und haben dort gewohnt; also ge­lebt. Die Brändström wurde dann später auch zum besetzten Haus, wo ich nicht gelebt habe, aber viel aktiv war.

Wie gesagt, die KL habe ich leider nur ein halbes/dreiviertel Jahr be­wohnt. War aber immer eine Zeit der absoluten Anspannung. Beson­ders in der Nacht, wenn ich wusste, ich bin mal wieder alleine. Weil ich ja noch in die Lehre gegangen bin, musste ich pünktlich ins Bett ge­hen, damit ich am nächsten Tag auch früh rauskomme. Das war kein angenehmes Schlafen, weil, man musste immer die Türen und Fenster offen lassen, damit man hört, ob sich draußen was sammelt oder so. Wir hatten dann unsere Pflastersteine und Flaschendepos vor den Fenstern, um uns zu vertei­digen. Es wurde auch immer zuge­sehen, dass wir die Türen verbar­rikadiert haben, immer die Fenster­läden geschlossen haben. Wir ha­ben ja teilweise auch unsere Fens­ter zugemauert. Ich weiß, wir ha­ben im Erdgeschoss eine Wohnung entkernt und wollten da eine große Kneipe rein machen. Wir hatten da schon einen Tresen reingebaut. Es war eigentlich viel geplant und schon am Laufen. Aber war dann die Luft raus. Es sind auch viele nach Berlin oder sonst irgendwohin gezogen. Da hat sich das ganz schön reduziert und es sind halt nur noch die Jüngeren dageblieben und haben dann die Brändström gemacht.

zweiteroktober90: Nochmal zurück zum 2. Oktober 1990: Für das Kassa haben sich dann die Nazis an dem Tag nicht interessiert? Sind die dann direkt nach Ost?

Ovidio: Doch. Ich glaube, die sind nach Jena-Ost und danach ins Kassa oder andersherum, das weiß ich nicht genau. Ich glaube, die kamen danach ins Kassa. Aber das Kassa wurde immer sehr gut vertei­digt. Wir hatten ein schönes Foyer, wo die Garderobe war. Da gab es einen großen Schrank so als Abgabe für die Garderobe . Da drin waren halt unsere Knüppel. Sobald Alarm war, sozusagen, da kamen die Leute an der Garderobe vorbei und haben nicht ihre Klamotten geholt, sondern einen Knüppel. Die sind dann raus und haben das erledigt (lacht).

zweiteroktober90: Wie viele Fa­schos haben sich denn üblicher­weise zu der Zeit so gesammelt zu Angriffen in Jena? Also mit vielen Leuten habt ihr z.B. auch gerechnet an dem Tag?

Ovidio: Das war immer unter­schiedlich. Also mit einer gewissen Zahl oder so haben wir uns nie auseinandergesetzt. Es ging immer darum, dass Faschos kommen. Egal wie viele. Dass das immer kein Spaß war, das war uns auch immer bewusst. Das war uns in solchen Momenten auch völlig egal, wie viele Faschos da vielleicht vor der Hütte stehen. Es ging immer darum, so schnell wie möglich zuzuhauen. Wenn die ersten am Bo­den lagen, ist der Rest weg­ge­rannt. Also ob es nun 20 waren oder 50, ich weiß es nicht.

zweiteroktober90: Aber das war so das Potenzial? Also so 50 Leute?

Ovidio: Nee, nee. Also wenn ich mich so an Situationen erinnere: Wenn Rummel war in Jena auf dem Markt, dann haben sich vielleicht so 20–30 Faschos sammeln können. Aber eigentlich sind die meistens in 5er- oder 6er-Gruppen herum­ge­rannt. Teilweise – also einmal bin ich mit einem Freund in die KL zurückgelaufen und da kamen zwei Motorradfahrer und haben ange­halten und wir haben uns dann geboxt. Also 1 zu 1. Die haben sogar den Helm abgenommen (lacht). Also es war immer unter­schiedlich. Klar sind die halt immer in wahrscheinlich größeren Grup­pen herumgerannt. Aber meine Erfahrungen waren immer so 4–5 Leute, die zusammen waren. Natür­lich immer martialisch und bedrohend. Aber im Endeffekt hatten sie auch nicht viel mehr Erfahrung als ich selbst. Da hast du irgendwann mal die Angst verloren. Bist einfach auf die drauf und fertig. Weil man hat ja gesehen, wenn wir gar nicht lange gefackelt und die Ersten umgehauen haben, dann ist der Rest weggerannt. Die wollten nämlich auch gar nicht auf die Schnauze kriegen.

zweiteroktober90: Wie ging es dann für dich im wiedervereinigten Deutschland weiter?

Ovidio: Wie gesagt, es ging erst mal ins Exil im Kassa. Ich habe meine Lehre auch in dieser Zeit zu Ende gebracht. Wir haben ja nicht nur dort gepennt, sondern haben dort die Crew sozusagen gestellt. Also wir haben die Bar mitbedient, den Einlass und Security gestellt. Das war eigentlich ganz lustig. Manchmal habe ich meinen Schlaf während der Lehre in der Berufs­schule nachgeholt. Aber so war es eigentlich für mich eine inte­ressan­te Zeit, die ich nicht missen will. Danach – das Kassa war ja keine Dauerlösung – bin ich in einige WGs gezogen. Bis ich irgendwann wie­der gegenüber der KL 58 gewohnt habe (lacht). Von dort aus bin ich dann hierher nach Bad Blankenburg. Aber das war erst später. Es hat sich wie gesagt die Brändströmstraße gebildet. Aber wir hatten auch andere besetzte Häuser in Jena. Die Papiermühle z.B. war auch eine Besetzung, wo jetzt eine Gaststätte ist. Wir haben immer wieder versucht neue Objek­te zu besetzen und haben uns dazu umgeschaut. Aber dort waren die Aktivbürger, die sofort die Bullen gerufen haben. Da sind wir dann immer rausgeflogen, auch wenn wir schnell zugemauert ha­ben. Also das eine Mal haben wir uns wirklich darauf vorbereitet. Als die Bullen eine Stunde später kamen, war schon alles zuge­mau­ert (lacht). Das ging immer weiter, bis wir den Felsenkeller im Endef­fekt von der Stadt angeboten be­kom­men haben.

zweiteroktober90: Nach einer Besetzung?

Ovidio: Ja. Da ging halt der Felsen­keller los. Das wurde auch alles in Eigenarbeit gemacht: Strom­an­schlüsse, Kanalisation usw. Das musste alles neu und erst mal wohnlich gemacht werden. Also heute gehe ich wirklich gerne in den Felsenkeller (lacht).

zweiteroktober90: Danke für das Interview.

Ovidio: Bitte.