Selbstinterview von Organisatorinnen der Demo gegen patriarchale Gewalt vom 27.9.2020
Wir haben eine Demonstration gegen patriarchale Gewalt in Jena organisiert. Warum?
I: Auslöser war, dass eine Reihe von Vorfällen patriarchaler Gewalt in der Szene veröffentlicht wurden. Wir haben uns gelähmt und ohnmächtig gefühlt, dann aber beschlossen: Wir demonstrieren!
R: Ich war unglaublich wütend darüber. Mir hat anfangs ein Zugang gefehlt, diese Wut zu kanalisieren und was Positives damit zu machen, um eben nicht ohnmächtig zu werden. Kraft und Zeit in die Orga der Demo reinzustecken, war dann genau richtig.
K: Ich bin erst im laufenden Organisierungsprozess dazugestoßen. Ich war davor lange wenig bis gar nicht politisch aktiv, unter anderem auch wegen cis-dominierten, patriarchal-gewaltmäßig strukturierten politischen Situationen. Ich habe es für mich als total wertvoll empfunden zu sehen, dass was organisiert wird, und den Impuls zu spüren, dass ich meine Ohnmacht und mein Nichts-Tun jetzt vielleicht aufbrechen kann. Weil die Organisationsstruktur offen war, konnte ich im laufenden Prozess noch dazustoßen.
I: Wir haben auch darüber gesprochen, dass wir das nächste Mal gleich reagieren wollen, mit einer Sponti z.B. Es waren bestimmt 2–3 Wochen, bis wir überhaupt in die Aktion gekommen sind. Eigentlich wollen wir jedesmal, wenn was passiert, sofort und heftig reagieren. Es gibt den klassischen 8. März, es gibt mal ne feministische Intervention, aber dezidiert gegen patriarchale Gewalt, gegen diesen Dauer-Kriegszustand gibt es kaum was; das muss sich ändern! Natürlich macht das was mit uns; wir haben auch selbst oder im Umfeld patriarchale Gewalt erlebt. Es gibt keine verhältnismäßige Reaktion auf dieses Ausmaß patriarchaler Gewalt; es ist nach wie vor ein Tabu, böse schambesetzt, ein Vereinzelungsthema.
R: Ja, die Notwendigkeit ist immer da, aber rückt oft in den Hintergrund oder hat keinen Platz. Und jetzt war die Notwendigkeit hier in Thüringen, hier in Jena, nochmal besonders hart spürbar.
Lasst uns für alle, die nicht dabei sein konnten, etwas, das uns auf der Demo besonders berührt oder bewegt hat, beschreiben.
R: Wir waren grad als Demozug unterwegs, haben Sprüche gerufen, und dann kamen wir in die Unterführung zum Markt und auf einmal waren wir so LAUT! Unsere Sprüche und Schreie haben so richtig in den Ohren gedröhnt und es hat sich angehört, als wäre die ganze Stadt voll mit uns!
K: Da hatte mensch so ne richtig körperliche Reaktion, das ist einer so richtig in den Körper gefahren. Weil das eben ne reine FLINT*-Demo war, da ist der Gemeinsam-sind-wir-stark-Moment nochmal so richtig physisch für mich geworden.
I: Ja! Mir hat die Parole: „Leute, hört ihr Frauen schrein, schlagt dem Typ die Fresse ein!“ so gut getan. Danach wurde aber zurecht kritisiert, dass wir nur „Frauen“ und nicht auch „FLINT*“ gerufen haben. Nächstes Mal braucht es beides.
R: Besonders beeindruckt hat mich, ich habe dort Freund*innen gehört, sie haben Erfahrungen geteilt, öffentlich geweint, und das hat mich so berührt und mitgenommen. Das werde ich nicht vergessen; das hat viel mit mir gemacht, das zu erleben.
I: Ich war sehr dankbar für den Mut, den Betroffene hatten. Großartig, dass es sowohl das Teilen von Gewalt in heterosexuellen cis-Beziehungen wie das von Gewalt gegen Trans*-Personen gab; das hat mich sehr sensibilisiert. Ich habe aber auch von vielen gehört, dass sie getriggert wurden, dass es für manche dann nicht mehr möglich war, weiter auf der Demo zu bleiben.
R: Ja, es kam im Nachhinein Rückmeldung von Menschen, dass sie danach ohnmächtig und allein nach Hause gegangen sind. Wiederum andere, die ihre patriarchalen Gewalt-Erfahrungen geteilt haben, haben diesen Prozess für sich als sehr empowernd empfunden. Wir müssen schauen, das miteinander zu vereinen, mit was Bestärkendem rauszugehen.
K: Es sollte eine klarer strukturierte und viel deutlicher erkennbare Awareness-Struktur geben. Z.B. dass es einen Sammelpunkt gibt, wo alle Demo-Teilnehmenden hingehen können, und dann nicht vereinzelt bleiben oder im schlimmsten Falle die Demo verlassen, sondern dann ne Chance und nen Ort haben, wo sie für den Moment, der gerade zuviel ist, ein anderes Setting haben.
I: Ich will unbedingt, dass alle gut bis zum Ende bleiben können!
K: Ich fand auch sehr gut, dass es ein Open-Mic gab, was unglaublich gut angenommen worden ist.
R: Auch richtig stark war, dass mehrere Genoss*innen aus Erfurt angereist sind und bis zum Schluss geblieben sind, wir uns vernetzt haben.
I: Mich hat auch bewegt, dass eine ältere Frau* vom Frauenhaus, die seit Jahrzehnten gegen patriarchale Gewalt arbeitet, sich für die Demo bedankt hat, weil das Thema so stark unterrepräsentiert ist und sowenig Zulauf hat. Sie hat sich mehr Zusammenarbeit in der Zukunft gewünscht. Das war auch wie ein Generationen-Verbinden.
Was braucht Jena aus unserer Perspektive für den Kampf gegen patriarchale Gewalt, gegen das Patriarchat?
I: Ich wünsche mir eine gemeinsame Strategie auf die anti-patriarchale cis-Männer-Vernetzung. Aber vor allen Dingen möchte ich eine gemeinsame FLINT*Strategie auf: Wie wollen wir mit patriarchaler Gewalt umgehen, wie können wir gemeinsam gegen das Patriarchat kämpfen? Wie schwierig das ist, haben wir gerade im Nachgang der Demo festgestellt.
R: Wir zeigen untereinander Trans*feindlichkeit, verharren in 2-geschlechtlichem Denken… Wir zeigen Rassismus… Wir verletzen uns, schwächen uns. Es ist schwer, gemeinsam zu kämpfen. Wir leben auch eine unglaubliche Negativ-Kultur. Als erstes kommt fast immer Kritik, wir grenzen uns ständig voneinander ab. Wir brauchen Verbundenheit!
I: Dass das Open-Mic auf der Demo so stark angenommen worden ist, untermauert, wie nötig und wichtig ein Raum ist, wo sowas thematisiert werden kann. Im Open-Mic sind schwierige Spannungsfelder aufgemacht worden, die trotzdem sehr wertvoll und wichtig sind, weil nur dadurch können wir auch wachsen, kann der Standpunkt und das Verständnis für die Thematik in jeder*m gefestigt und gestärkt werden.
R: Ja, aneinander reiben, aber Zusammenarbeit ohne Ende. Es gibt soviele aktive Genoss*innen die zu feministischen Themen in Jena arbeiten, und so oft wissen wir gar nicht voneinander, wissen gar nicht, woran jede von uns arbeitet, können deswegen auch schlecht aneinander anknüpfen oder aufeinander aufbauen. Wir müssen voneinander wissen! Ich wünsche mir noch mehr autonome Vernetzung und Austausch von FLINT*-Personen und Diskussionen. Das war erst der Anfang.
K: Ich sehe den ersten Keim, den mensch jetzt hegen und pflegen kann, um in diese Richtung zu gehen, um Vernetzung zu verstärken und auszubauen und auch längerfristig ne Struktur zu entwickeln, in der mensch dann gemeinschaftlich arbeiten und agieren kann. Ich fände auf jeden Fall ein Publik-Machen von: Was gibt es schon? Wo kann ich mich hinwenden, wenn ich in Jena FLINT*-Arbeit machen möchte, für Theorie-Arbeit, wenn ich mich in ner Gemeinschaft strukturieren möchte, im Wohnen oder im Wirtschaften, was gibt es schon, welche Anlaufpunkte gibt es?
R: Ja.. Ich will, dass wir uns organisieren und auch einfach irgendwie vorangehen, krasse anti-patriarchale Prozesse machen, vor allem auch von cis-Männern in Jena krasse anti-patriarchale Arbeit geleistet wird.
I: Also ich fordere das. Es war nicht das letzte Mal, dass patriarchale Gewalt passiert, und sehr viel wird gar nicht öffentlich gemacht. Patriarchat ist überall, es nimmt alles ein, aber wir doktern ganz oft nur an einzelnen Stellen rum. Ich wünsche mir, dass ganz viel Bildungsarbeit zum Patriarchat gemacht wird. Was ist die Geschichte des Patriarchats? Wo ist die verlorene Geschichte, die unterdrückte Geschichte von FLINT*, die uns jedesmal empowert, wenn wir davon erfahren?
R: Auch unsere Widerstandsgeschichte! Für mich ist ganz klar, dass uns die autonome Organisierung von FLINT*-Personen einfach soviel weiterbringen wird, wir da soviel Kraft daraus ziehen.
I: Ja! Die eigene Kraft spüren. Wir haben das ja alles komplett aus FLINT* heraus organisiert. So ne Demonstration nur mit FLINT* zu organisieren, das heißt auch viele FLINT*, die das zum ersten Mal machen, lernen und dabei merken: Ich kann das! Ich trau mich das! Und ich trau mich das auch, weil Genoss*innen sind an meiner Seite und wir machen das zusammen.
K: Der erste Schritt ist: raus aus der Isolation, wieder rein in die Aktion!