oder: Wie sieht eine emanzipatorische Kritik an den Corona-Maßnahmen aus?
„Ich lass mir gar nichts sagen…“ oder: Wie sieht eine emanzipatorische Kritik an den Corona-Maßnahmen aus?
An den politischen Auseinandersetzungen anlässlich der Corona-Maßnahmen zeigte sich in den letzten Monaten verstärkt, dass unsere Gesellschaft nicht auf das Wohl aller Menschen ausgerichtet ist. Worum genau ging es Leuten, die immer und überall Maske trugen und sich die Hände wuschen oder aber ohne Maske und ohne Abstand auf Demos gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung gingen? Geht es Querdenken-Aktivist*innen oder Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen um die fehlende Party oder den verunmöglichten Sommerurlaub letztes Jahr oder darum, dass ihr Leben generell so anstrengend ist, dass sie den Ausgleich dringend brauchten? Geht es um den uneingeschränkten Konsum um jeden Preis, oder darum, dass die eigene Existenz innerhalb dieser Systemlogik an der Öffnung des eigenen Ladens und der Zahlung von Kreditraten hängt? Wie gehen eigene Freiheiten und die Sicherheit aller zusammen, ist eine alte Frage vor neuem Hintergrund.
Wir wollen unsere Perspektive auf die Vorgänge und Erscheinungen der letzten mehr als anderthalb Jahre schärfen und Praxisänderungen anstoßen. Dabei geht es uns darum, nicht nur Anregungen für die Zeit während der Corona-Maßnahmen, sondern für eine darüber hinausgehende, langfristig andere Organisierung des eigenen Lebens zu geben.
Wo wir das Problem sehen
Wir sehen ein großes Problem in der Funktionsweise unserer Gesellschaft und der Prioritätensetzung von Staat und Wirtschaft. Alle Menschen ohne Eigentum an Produktionsmitteln oder Geld (Lohnabhängige oder Sozialleistungsbeziehende) und ohne gewisse Privilegien (Weißsein, Mannsein, Gesundsein, Normalsein) leben aufgrund dessen mit Begrenzungen ihrer Freiheiten und Sicherheit. In einer Krisensituation wie dieser Pandemie verstärkt und verschärft sich dieses Problem noch weiter. Die stark individualisierten Perspektiven und Handlungen vieler Menschen, die sich in verschiedenen Lebensbereichen in Konkurrenz zueinander befinden, tragen ebenfalls dazu bei. Die Corona-Maßnahmen können uns weiter vereinzeln und denjenigen, die bereits am stärksten von gesellschaftlichen Ungleichheiten betroffen sind, noch weiter schaden, wenn Leute kein Wissen über oder Interesse am Gemeinwohl haben. Wenn eine Vielzahl oder gar eine gesellschaftliche Mehrheit kein Interesse an anderen als den ihnen nahestehenden Menschen hat und wenig Verbundenheit mit der Allgemeinheit spürt, sondern nur ein „Sippendenken“, also den alleinigen Fokus auf „meine Familie und ich“ hat, dann verschärfen die Maßnahmen eines bspw. Lockdowns diese ohnehin schon vereinzelnden und konkurrenzbasierten Verhältnisse.
Kernproblem ist immer wieder die kapitalistische Wirtschaftsweise, die auch den vermeintlich sozialen Rechtsstaat und uns als Einzelpersonen prägt: Anstatt Basisorganisierung und verantwortungsbewusste Gesellschaftsstrukturen in Dörfern, Städten und Regionen überall auf der Welt nach solidarischen Prinzipien zu fördern und zu pflegen, treibt sie die Menschen dazu, in erster Linie die eigenen Absicherungen und Vorteile im Auge zu behalten.
Historisch kam es immer wieder zu Krisen wie solchen Erkrankungen einer großen Anzahl von Menschen. Jedoch ist eine Pandemie den weltweiten Waren- und Personenströmen, sowie den Lebensumständen der meisten Menschen in den urbanen Zentren der Welt geschuldet. Die Verbreitung von Viren geschieht in Ballungsräumen sehr leicht und die große Nähe bzw. häufige Begegnung zwischen Menschen, die gezwungenermaßen gemeinsame Infrastruktur nutzen und sehr mobil sind, trägt dazu bei. In größeren Städten sind mehr Menschen auf engem Raum unterwegs, beispielsweise in U-Bahnen oder Geschäften, das Leben spielt sich in kleineren Wohnungen ab. Hinzu kommt die globale Mobilität von Arbeitskräften, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, was zu einer schnellen weltweiten Verbreitung von Krankheiten führt. Außerdem die Massentierhaltung in der industrialisierten Fleischproduktion, die in kürzer werdenden Zeiträumen Seuchen unterschiedlichen Ausmaßes befördert. Vor allem der Einsatz diverser Antibiotika in der Massentierhaltung führt zu immer neuen Stämmen resistenter Bakterien, gegen die auch beim Menschen kein Antibiotikum mehr hilft.
Der Ausweg kann nicht darin liegen, grundsätzlich den globalen Austausch zu reduzieren, sondern die Ausgrenzungs- und Verwertungslogik in dieser Gesellschaft zu überwinden. Im kapitalistischen System Deutschlands stellt sich der Umgang mit der Pandemie so dar, dass Maßnahmen danach priorisiert werden, was dem Wirtschaftsstandort dient: Die Gesundheit der Menschen ist nachrangig, zuerst wird deren gesellschaftliche Stellung in den Blick genommen und ihr Bezug zur Produktion. Hier hat sich das gezeigt:
- Der Produktions- und Handelsbereich blieb während der Corona-Krise weitestgehend unverändert: Während die Menschen ihre Sozialbeziehungen und Freizeitaktivitäten einschränken sollten, mussten viele dennoch ihrer Lohnarbeit nachgehen.
- Für die Lohnarbeit mussten die Menschen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in volle Betriebe, Krankenhäuser oder Kitas fahren und dort mit Kolleg*innen, oftmals ohne geeignete Hygienemaßnahmen oder Möglichkeiten, Abstand zu wahren, zusammenarbeiten.
- Es gab nicht ausreichend kurzfristige Maßnahmen, um Eltern sowie Arme und Kranke zu unterstützen. Die essentiellen Fachkräfte in den Bereichen Produktion, Gesundheitswesen und Kinderbetreuung wurden bisher nicht gut und langfristig entlastet (das macht der kapitalistische Staat nicht von sich aus, sondern dafür braucht es die Organisierung von Menschen im Betrieb bzw. in einer Gewerkschaft).
Der schwerwiegendste Einschnitt aufgrund der beschriebenen Zustände war die in einigen Krankenhäusern Europas verbreitete Triage. Aufgrund der mangelhaften Versorgungslage wegen der Vielzahl von schwerwiegenden Corona-Fällen (zeitgleich mit den üblichen Erkrankten und Verletzten) wurde eine Vorauswahl der Patient*innen getroffen, die überhaupt eine ausreichende Behandlung erhielten. Dies hatte zur Folge, dass gar nicht erst alle eingelieferten Kranken überhaupt eine Behandlung erhalten haben. Insbesondere alte Menschen und Menschen mit Handicap sind dabei grundsätzlich benachteiligt. Zu solchen inakzeptablen Zuständen muss es in diesem weit entwickelten Wissenschafts- und Gesundheitssystem nicht kommen. Sie sind Folge einer Spar- und „Effizienzpolitik“, die jeden Cent aus den Beschäftigten und der Infrastruktur presst, anstatt langfristig für ein System mit Puffer-Kapazitäten für Mehrbelastungen und mit erholten, gut bezahlten Mitarbeiter*innen zu sorgen. Seit Mitte der 1980er Jahre wird die deutsche Krankenhauslandschaft auf Marktförmigkeit und Wettbewerb getrimmt. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Einführung der Fallpauschalen (Diagnosebezogene Fallgruppen, kurz DRG). Damit wurde nicht nur die Möglichkeit von Gewinnen und Verlusten für die Krankenhäuser in den Mittelpunkt gerückt. Die Entscheidungen im Krankenhaus wurden darüber hinaus einer Profitlogik unterworfen: Heute gilt es, möglichst viele möglichst lukrative Patient*innen mit möglichst wenig Kosten durchzuschleusen. Schon vor der Corona-Pandemie führte die Ökonomisierung zu einem massiven Personalabbau bei gleichzeitiger Arbeitsverdichtung, vor allem in der Pflege. Das rächt sich jetzt in Form von Engpässen bei der Versorgung, insbesondere von intensiv zu betreuenden Patient*innen.
Die zugrunde liegenden kapitalistischen Prinzipien von Mehrwertabschöpfung und Hierarchisierung haben für eine entsprechende Ausgangssituation gesorgt. Das sind: Arbeitszwang und die Verpflichtung für das Lebensnotwendige wie Wohnung, Essen und Hygiene zu zahlen, denn die Umverteilung von Unten nach Oben wird auch in der Pandemie nicht ausgesetzt. Weiterhin besteht die Drohung sozialen Abstiegs für diejenigen, die auch noch chronisch krank werden oder die ihre Wohnung oder den Job verlieren. Weiterhin erfolgt die soziale Ausgrenzung derer, die nicht Weiß oder hier geboren sind, und es erfolgen immer wieder politische Entscheidungen aufgrund wirtschaftlicher Faktoren statt menschlicher Bedürfnisse. Dazu gehören eben genau jene Sparmaßnahmen im Gesundheitssektor, beim dortigen Personal und der medizinischen Infrastruktur.
Die europäische und somit deutsche Austeritätspolitik gegen die südeuropäischen Länder in und nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 hat die Wirtschaft und das Gesundheitssystem dort nachhaltig geschwächt und ausgedünnt, sodass dort noch mehr Unbehandelte und Tote während Corona zu betrauern sind. So waren spanische Altenheime und italienische Krankenhäuser strukturell derart überlastet, dass eine Behandlung nicht mehr gewährleistet werden konnte. Durch die überlasteten Rettungseinrichtungen konnten zudem viele Menschen mit Atemnot gar nicht abgeholt werden und verstarben zuhause, ohne auf Covid-19 getestet zu werden, was für eine erhöhte Dunkelziffer spricht.
Das Unbehagen mit oder die Kritik an den Corona-Maßnahmen ist für uns nachvollziehbar, jedoch ist die Frage wichtig, ob es dabei um das Unbehagen geht, nicht mehr in großer Gruppe und wie gewohnt feiern zu können oder um die Sorge um gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen? Rührt die generelle Unzufriedenheit aus den Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu Konsum und Freizeitgestaltung oder aus der Sorge um die Freiheit Aller, zu leben, wie sie es möchten? Wie viele Ereignisse, hat auch dieses mehrere Seiten: So haben die Hygienemaßnahmen und Kontakteinschränkungen bereits zu weniger Toten durch geringere Infektionen mit Grippeviren und weniger Unfall-, Raub- und Mordopfern geführt, aber zugleich für Tote gesorgt, weil Menschen nicht mehr zu Vorsorgeuntersuchungen oder Notversorgung bei medizinischen Einrichtungen gehen wollten oder sich ihr Gesundheitszustand aus Isolations- oder Angstgefühlen heraus verschlechtert hat, weshalb sie früher verstorben sind.
Es gibt eine folgenschwere Erkrankung durch das Covid-19-Virus
Zum einen können die offiziellen Zahlen der bisher Verstorbenen (weltweit fast 4 Millionen Menschen) und fast 200 Millionen Erkrankten, sowie einer großen Dunkelziffer Hinweis genug sein, die Lage ernst zu nehmen. Selbst wer in seinem eigenen Umfeld keine Verstorbenen kennt – es gibt sie. Worauf wir nicht setzen können, ist die „Stärkung des Immunsystems“. Natürlich genesen auch viele Menschen, jedoch bei weitem nicht alle. Zudem zeigen Messungen bei älteren Genesenen, dass eine dauerhafte Immunität unwahrscheinlich ist. Vor allem Risikogruppen können nicht auf eine Genesung und ihr Immunsystem setzen; manche Menschen wissen noch nicht einmal, dass sie ein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben und neuere Virusmutationen betreffen auch in verstärktem Maße jüngere Menschen mit schweren Verläufen. Besonders gefährdet sind unter anderem arme Menschen, (psychisch) vorerkrankte Menschen und jene, die einfach nicht ausreichend medizinisch versorgt werden können (z. B. wegen ihrer Wohnregion oder der Überlastung des Gesundheitssystems). Eine Herdenimmunität ist wünschenswert, aber nicht auf Kosten der wahllosen Verbreitung unter allen Menschen, von denen sich ein großer Teil nicht erholen wird. Solche gleichgültigen Haltungen, die alle den gleichen Risiken aussetzen wollen, ebnen den Weg für sozialdarwinistische Positionen, welche das „Überleben der Stärkeren“ akzeptieren wollen – und das in einer Welt, in der ansonsten absolut jeder Lebensbereich von künstlichen und modernen Hilfseinrichtungen unterstützt wird und es eine der Haupterrungenschaften der Menschheitsgeschichte ist, alle lebenden Menschen nach ihren Bedürfnissen versorgen zu können, was leider noch immer nicht umfänglich umgesetzt wird.
In einer so vernetzten Gesellschaft wie der unseren ist es darüber hinaus nicht möglich, sich allein zu schützen und individuell zu überleben. Es ist auch nicht wünschenswert, Einzelne zu isolieren, da diese sonst nicht mehr gesellschaftlich bzw. an ihren sozialen Kontakten partizipieren oder sich frei bewegen könnten. Es ist jedoch möglich, dass sich alle ein wenig einschränken. So wäre sichergestellt, dass auch besonders gefährdete Personen und jene die spezielle Bedarf haben, was Mobilität oder Versorgung anbelangt, weiterhin versorgt sind. Auch die schiere Anzahl an Betroffenen sorgt für eine riskante Versorgungslage, was medizinische Notfallbetreuung und Versorgung mit Sauerstoff aus Flaschen anbelangt.
Zudem ist es nicht ratsam, die Krankheit „einfach mal“ durchzumachen und ggf. wieder zu genesen, da die Risiken und Langzeitfolgen erheblich und zum Teil noch nicht absehbar sind. In Fällen von Obduktionen, um die Frage zu klären, ob Menschen an oder mit Covid-19 verstorben sind, wurden als Todesursache gelöste Blutgerinnsel gefunden. Nun waren die Betroffenen zuvor jedoch nicht gerinnselgefährdet, was dafür spricht, dass die Infektion mit dem Corona-Virus vielfältig tödlich wirkt. Spätfolgen sind sehr umfassend dokumentiert und äußern sich beispielsweise in Herzmuskelentzündungen und Herzinfarkten, Schmerzen und Atembeschwerden, chronischer Müdigkeit und Kopfschmerzen sowie Gewebeschäden an vielen Organen. Und das nicht bei den alten Menschen und Personen mit schweren Krankheitsverläufen, sondern im Schnitt 44-Jährigen. Es ist also ratsam, jede Ansteckung zu vermeiden und nicht nur eine Genesung durch das eigene Immunsystem anzustreben.
Auch lehnen wir die Angstmache vor mRNA-Impfstoffen ab. Diese wurden bereits vor Corona getestet und sind kein spontanes, neues Experiment an der Menschheit. Im Rahmen klinischer Prüfungen gibt es schon Erfahrungen mit mRNA-Impfstoffen beim Menschen, etwa mit einem therapeutischen Tumorimpfstoff. Dabei haben sich keine besorgniserregenden Nebenwirkungen gezeigt. Die Annahme, durch diese Impfung könnte Viren-Erbgut in das menschliche eingebaut werden ist wissenschaftlich falsch. Dagegen hat die Entschlüsselung des menschlichen Genoms bereits gezeigt, dass etwa neun Prozent des menschlichen Genoms eingebaute Virus-DNA enthält, die wir uns durch Infektionen mit Viren zugezogen haben. Das bedeutet die Menschheit muss seit Jahrmillionen mit Viren umgehen und hat das als Ganzes auch gut hinbekommen. Für den Einzelfall, in dem heute Menschen an dem Virus versterben oder aufgrund von Vorerkrankungen ein hohes Impfrisiko haben, ist dies jedoch keine Beruhigung.
Die politische Situation während Corona
Viele der bisher ergriffenen staatlichen Maßnahmen sind nicht auf vorgesehene demokratische Weise zustande gekommen, viele Maßnahmen wurden von Gerichten wieder kassiert. Es ist unhaltbar und entspricht nicht den demokratischen Regeln in Deutschland, über die Menschen und die gewählten Vertreter*innen im Bundestag hinweg mit einem Dekret von Seiten der Bundesregierung und Staatsverwaltung zu entscheiden. Stattdessen müssen Maßnahmen formal parlamentarisch abgestimmt werden, dazu gehört auch und gerade die Maßnahmen ausführlich zu begründen, sie also gesellschaftlich zu vermitteln, damit die Menschen unterscheiden und nachvollziehen können, ob diese Maßnahmen zulässig, geeignet und verhältnismäßig sind – also mit möglichst geringen Einschnitten den möglichst größten gewollten Effekt erzielen. Die Menschen müssen in die Lage versetzt werden zu ermessen, ob sie Entscheidungen und Maßnahmen als sinnvoll oder aber als Gefährdung für die Demokratie und die Grundrechte einschätzen. Sie müssen sich informieren, positionieren und ggf. opponieren können, um demokratisch agieren zu können. Die demokratischen Grund- und Schutzrechte dürfen auch während Corona nicht abgeschafft werden. Der Staat muss, wenn seine Vertreter*innen schon diese staatliche Macht ausüben wollen, auch alle seine Pflichten gegenüber seinen Bürger*innen erfüllen. Das ist zuletzt nicht geschehen. Selbstverständlich muss es möglich sein, politische Demonstrationen und Kundgebungen abzuhalten. Um die Bevölkerung vor Corona zu schützen, müssen jedoch auch die hierfür notwendigen, wenig einschränkenden Maßnahmen des Maskentragens und Abstandhaltens umgesetzt werden. Es gibt einen Unterschied zwischen vereinzelten Versäumnissen und Unachtsamkeiten bezüglich dieser Maßnahmen und einem vorsätzlichen Missachten jeder Vorsichtsmaßnahme, die andere schützen würde. Zumal wir mittlerweile wissen, dass man Corona verbreiten kann, ohne selber Symptome zu haben.
Ein weiteres großes gesellschaftliches Problem zeigt sich im Bereich der Rechte von Frauen* (mit dem *-Sternchen soll sichtbar gemacht werden, dass Geschlecht konstruiert ist und der Begriff „Frauen“ alle Menschen miteinbezieht, die sich als Frau begreifen), die offiziell gleichgestellt sind, dies aber in der gesellschaftlichen Praxis nie ganz waren. In Corona-Zeiten werden sie in alte Rollen zurückgedrängt. Frauen* sind von der Corona-Pandemie und den damit verbundenen politischen Maßnahmen in besonderer Weise betroffen, z. B. dadurch, dass sie (oder auch migrantische Arbeiter*innen) systemrelevante und zugleich meist unterbezahlte, oftmals prekäre Formen von Lohnarbeit haben (z. B. als Kranken-, Pflege- und Betreuungskräfte, Kassiererinnen, Reinigungskräfte usw.). Außerdem wirken Gehaltsunterschiede für gleichwertige Tätigkeiten (bekannt als „gender pay gap“) fort. Hinzu kommt eine Verschärfung der ungleichen Verteilung unbezahlter Sorgetätigkeiten. So reduzieren Frauen* in der Pandemie häufiger ihre Arbeitszeit, um sich um Kinder zu kümmern. Da die ökonomischen Folgen der Krise noch länger spürbar sein werden, könnte eine Rückkehr zur vorherigen Arbeitszeit unter Umständen nicht möglich sein. Somit drohen auf lange Sicht drastische Folgen für das Erwerbseinkommen von Frauen*: Die bestehende Lohnlücke zwischen den Geschlechtern dürfte sich durch die Corona-Krise noch weiter vergrößern und die Gefahr für Altersarmut steigt weiter. Zudem nehmen häusliche und sexualisierte Gewalt zu, wenn Menschen aufgrund von Corona ihre Wohnung nicht oder kaum noch verlassen können. Ebenfalls davon betroffen sind Kinder, deren Betroffenheit an psychischen Erkrankungen während der Corona-Pandemie stark zugenommen hat.
Da wir von der Notwendigkeit bestimmter Schutzmechanismen ausgehen, können wir nicht rundheraus alle staatlichen Maßnahmen ablehnen, sondern müssen mit Augenmaß konkrete Schritte gehen: Auch in Zeiten von Verunsicherung sollte ernsthaft und notfalls auch auf Basis unvollständiger oder vorläufiger Erkenntnisse nachgedacht und gehandelt werden, statt zu leugnen und zu lamentieren. Das erfordert die Grenzen des eigenen Wissens und prognostischer Fähigkeiten anzuerkennen und daraus Schlüsse zu ziehen. Das bedeutet auch, zu analysieren, mit welchen ökonomischen Interessen und Lobbygruppen es sich anzulegen gilt, aber auch darüber nachzudenken, welche unterschiedlichen Betroffenheiten und Verletzlichkeiten anzuerkennen und zu bedenken sind.
Kritik am Rechtsstaat
Es ist in unseren Augen kein Wunder, dass Menschen Angst und Sorge haben bezüglich der Corona-Maßnahmen, da es wenig bis keine rechtliche Sicherheit gibt in diesem sogenannten Rechtsstaat. Ein Beispiel ist die Nutzung von Kontaktverfolgungsdatenblättern, die zu Beginn der Corona-Maßnahmen in gastronomischen Einrichtungen eingesetzt wurden. Diese Datenblätter werden von der Polizei in Fällen kleinster Straftaten im Umfeld dieser Einrichtungen ausgewertet werden, obwohl diesewie auch Online-Anmeldungen für Museen oder Schwimmbäder angeblich nur dem Infektionsschutz dienen sollen. Hier wird also Datenschutz nicht gewährleistet, sondern umgehend dem Interesse des repressiven Staates geopfert.
Auch ist es absolut inkonsistent und inkonsequent, Menschen über längere Zeit mit teilweise absurden Einschränkungen zu belasten und zu isolieren, auf der anderen Seite jedoch Arbeiter*innen nicht genug Abstand und Infektionsschutz zu gewähren, wenn sie sogenannte systemrelevante Arbeit verrichten, und andere weiterhin zu vermeintlich nicht systemrelevanter Arbeit in enge Betriebe, öffentliche Nahverkehrsmittel und teilweise Massenunterkünfte zu zwingen. Es ist auch widersprüchlich, Menschen in Knästen festzuhalten, anstatt wenigstens die für Bagatelldelikte Inhaftierten zu entlassen und in einer Wohnung unterzubringen oder verstärkt Hafturlaub zu gewähren. Genau so, dass Menschen in Deutschland und ganz Europa zusammengepfercht in Lagern statt dezentral untergebracht sind. Sogar unvorhersehbare Internierungen, wie die Abriegelung und Umzäunung ganzer Wohnblocks in Berlin Neukölln, gab es, um über sie eine Zwangsquarantäne zu verhängen, was nachgewiesenermaßen auch Menschen betraf, die nicht selbst infiziert waren oder keinen engen Kontakt zu laborbestätigt Infizierten hatten. Diese Menschen wurden somit einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt und zugleich ein rechtliches Exempel statuiert, das es in der Form noch nie gab.
Es gibt momentan keine gesicherte Rechtslage über die Dauer der Aufbewahrung und weitere Verwendung der vielen Millionen Gen-Proben, die für die PCR-Tests entnommen wurden und für einen DNA-Test ausgewertet werden könnten. Auch wenn momentan nicht überall die Lagerkapazitäten dafür vorhanden sein sollten, so ist jedoch bereits bekannt, dass zumindest die Charité in Berlin bis auf unbestimmte Zeit alle bisher entnommenen Proben tatsächlich einlagert.
Der vermeintliche Rechtsstaat, der solche wichtigen Belange ungeregelt lässt und in dem beschriebener Machtmissbrauch auch in anderen Bereichen auftritt, trägt dazu bei, dass Menschen misstrauen und sich nicht anpassen wollen. Selbst solidarische Menschen, welche die Maßnahmen zum Schutz anderer unterstützen, sind argwöhnisch und bleiben kritisch gegenüber jedem einzelnen Schritt und jeder neuen Maßnahme, da es in einer Demokratie dazu gehört, sich zu informieren und kritisch zu hinterfragen, um informierte Entscheidungen zu treffen.
Die eigentliche Problematik zeigt sich hier in der Verquickung von Kapitalismus und Demokratie. Während die Idee einer auf das Wohl aller Menschen ausgerichteten Verwaltungsform, bei der alle mit entscheiden können an sich genial ist, verunmöglicht das kapitalistische Wirtschaftssystem, in welchem die Menschen in Konkurrenz, also gegeneinander arbeiten und Entscheidungen in Hierarchien und nicht miteinander getroffen werden viele der demokratischen Potenziale.
In der zur Gleichwertigkeit und Freiheit verpflichteten Demokratie würden alle Bewohner*innen entsprechend der Umstände und Bedürfnisse vor Ort, z. B. anhand der regionalen Bedarfe und lokalen Bedingungen in einer Stadt, entscheiden, anstatt dass wenige Repräsentant*innen Maßnahmen von oben nach unten durchsetzen. Damit das jedoch solidarisch vonstatten geht und der Ort gut vernetzt bleibt – da die Lösung größerer Probleme oder Vorhaben auch größere, ggf. globale Vernetzung braucht – brauchen wir Menschen eine demokratische Haltung, also eine, die alle Menschen als gleichwertig betrachtet und Eigenheiten sowie Verletzlichkeiten ernst nimmt und schützt. Außerdem bräuchten wir mehr Freizeit, um diese Prozesse organisieren zu können, also weniger Lohnarbeit.
Momentan ist die Demokratie das beste System, das es bisher in Europa gab. Mit einer grundlegenden demokratischen Haltung unter uns Menschen, könnte im bestehenden System mehr direkte Gestaltung stattfinden, nämlich unter Einbeziehung aller Betroffenen und Interessierten, mittels guter Vernetzung auch über größere Distanzen und zum Wohle der Menschen, statt in Konkurrenz zueinander. Das Ganze könnten wir dann auch Anarchie nennen und in einer herrschaftsfreien Form der Verwaltung menschlicher Interessen den Schutz von Minderheiten, Ressourcen, Natur und Tier sowie die Unterstützung und Stärkung von momentan gesellschaftlich benachteiligten Gruppen gemeinsam stemmen. Wir könnten gemeinschaftlich die bestehende Demokratie hin zu mehr Freiheiten für alle Menschen überflügeln und somit weniger zentrale staatliche Maßnahmen akzeptieren müssen, wenn wir selbstständig Rücksichtnahme gegenüber z. B. durch Corona besonders gefährdete Menschen übten, indem sich alle ein wenig zurückhalten. Als Krise, die alle Lebensbereiche beeinflusst, lässt sich diese Krise nicht individuell bewältigen. Jede*r Einzelne ist auf gesellschaftliche Solidarität angewiesen und auf den Zugang und die Verfügbarkeit kollektiver Güter, also auch die Kraft und Fähigkeiten anderer Menschen und ihre Rücksichtnahme. Solange wir nicht alle konsequent solidarisch mit allen Menschen sind, also Alte, Kranke und Menschen mit Handicap schützen, Kinder, Frauen* und Migrant*innen respektieren und unterstützen, sowie unsere natürlichen Ressourcen, Natur und Tiere nachhaltig schonen, gibt es eine Legitimation für einen Staat, der hier teilweise schützend eingreift, jedoch damit immer auch die Möglichkeit hat, übergriffig und gewalttätig gegen uns zu sein.
Einige dieser Zwänge, in denen wir aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsweise und weil uns das in unserem Umgang miteinander geprägt hat stecken, können wir schon jetzt gemeinschaftlich auflösen. Post-pandemisch wollen wir ja nicht zurück zur alten Normalität bzw. die neuen Umstände und Einschnitte als neue Normalität akzeptieren, sonderneigenverantwortlich und gemeinschaftlich für mehr Freiheit und Sicherheit für alle Menschen sorgen. Wir wollen nicht die eine Autorität des Staates oder gar im Staat gegen eine andere Autorität eintauschen, so wie es den Eindruck bei einigen Querdenken-Aktivist*innen macht. Wir wollen auch nicht das Bestehende gegen mehr Esoterik und „Hoffen auf das Beste“ eintauschen, sondern mehr informative Kommunikation, gemeinschaftliche Entscheidungen und Rücksichtnahme auf die Gefährdeten unter uns.
Wie geht es besser?
Mögliche praktische Schritte werden bereits gegangen und sollten ausgebaut werden. Zum Beispiel existieren in selbstorganisierten Projekten bereits gemeinschaftliche Entscheidungsfindungswege, wie in Hausprojekten oder wirtschaftlichen Kollektiven, solidarischen Landwirtschaften, Ortsteilläden und sozialen Bewegungen. Denen können sich solidarische Menschen anschließen oder die Ziele und Proteste dieser Gruppen unterstützen.
Gesundheitsversorgung kann durch starke Betriebsgruppen und Gewerkschaften in den Krankenhäusern, Rettungsdiensten, Pflegeeinrichtungen oder Arzt*-Praxen zum Wohle der Menschen statt auf Profit ausgerichtet werden. Schon jetzt unterstützen Medinetze und Behandlungsscheinausgabestellen Menschen ohne Krankenversicherung. Dort können solidarische Menschen sich engagieren. Der Ausbau von Stadtteilgesundheitszentren und Polikliniken könnte die Versorgung für breite Bevölkerungsschichten gewährleisten, Wege verkürzen und viel besser vor Ort einschätzen helfen, was gebraucht wird. Der Ausbau des Gesundheitswesens und der Kranken- und Altenpflegeinfrastruktur ist nicht nur aus Betroffenenperspektive notwendig, sondern auch in Hinblick darauf, dass dies nicht die letzte Pandemie gewesen sein wird.
Nachbarschaftsinitiativen haben in Zeiten von Corona zugenommen, unterstützen ältere Mitmenschen und Haushalte mit Unterstützungsbedarf und Kindern und sollten nach Corona weiter ausgebaut werden und sich untereinander vernetzen. Warum sollten nicht auch der öffentliche Nahverkehr oder Wohnungsbestände in Gemeinwirtschaft übergehen, um ihr Angebot nach den Bedürfnissen der Nutzer*innen und Bewohner*innen zu gestalten? Alternativökonomische Bewegungen sind aktiv in den Bereichen gemeinschaftlich genutzter Güter, wie Räume, Maschinen oder Wissen; Solidarische Ökonomien haben gemeinsame Konten und Gelder, um einen Ausgleich zwischen jenen mit wenig und jenen mit viel Geld zu erreichen; an Umsonst-Orten wird gesammelt und verschenkt, statt einer Tauschlogik wie im Laden zu folgen. Die Ideen vom Wirtschaften sind hier geprägt davon, dass nicht Geld, Kapital und Wachstum, sondern Menschen und Natur im Zentrum des ökonomischen Handelns stehen.
Es macht auch Sinn, dafür einzutreten, dass mittels einer Vermögensabgabe für Millionär*innen (ein Instrument, das die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer zur Finanzierung des Ausgleichs der Lasten des Zweiten Weltkriegs genutzt hat) die entstehenden Ausgaben finanziert werden. Dort zu sparen, wo es bereits knapp ist, wie in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gesundheitsversorgung, bei Frauen*-Häusern oder Sport, Kunst und Kultur zieht nur Folgeprobleme nach sich und wir möchten in einer Welt leben, in der alle geschützt und gut leben können – das können Millionär*innen auch noch mit nur einer Million auf ihrem Konto (oder weniger).