von einer Genossin
Mein Selbstverständnis als Anarchafeministin rührt daher, dass ich meine Analysen von gesellschaftlichen Verhältnissen von einem herrschaftskritischen Standpunkt aus vornehme. Kritisch an der Herrschaft von Menschen über Menschen sehe ich, dass solche Strukturen zwangsläufig zu Ungleichwertigkeiten und Unfreiheiten führen und diese wieder neue Herrschaftsmechanismen in Gang setzen. Dieser Standpunkt erscheint mir jedoch unvollständig, wenn nicht ausdrücklich eine geschlechterkritische Perspektive hinzutritt. Diese Ergänzung ist wichtig, da zwar eigentlich in der Herrschaftskritik die Kritik an Geschlechterrollenzuschreibungen und daraus resultierenden diskriminierenden gesellschaftlichen Verhältnissen enthalten sein sollte. Jedoch haben in der Vergangenheit und zu Entstehungszeiten moderner herrschaftskritischer Theorien (vor allem) Männer mit ihren Texten und Verhaltensweisen zum Teil die besondere Betroffenheit von Menschen aufgrund von Geschlechterzuschreibungen bzw. nicht anerkannten Lebens- und Liebesweisen nicht beachtet oder im schlimmsten Fall sogar selbst frauenfeindliche und homophobe Bilder verbreitet und somit dieses Gesellschaft prägende Herrschaftsverhältnis außer Acht gelassen oder sogar zementiert. Kritiker_innen dieses Versäumnisses haben dann die Ausweitung der anarchistischen Kritik auch auf Geschlechterverhältnisse praktiziert. Da ich den Feminismus als soziale Bewegung und Analyseperspektive begreife, die genau diese Problemlagen in den Blick nimmt, finde ich die Selbstbezeichnung als Anarchafeministin sehr treffend. Bedeutung hat die Nutzung dieser Selbstbezeichnung für mich vor allem deshalb, weil mich der Weg zu und die Nutzung der Konzepte Anarchismus und Feminismus sprachfähig gemacht hat und ich darüber mit anderen Menschen in Austausch treten und zu konkreten Handlungen kommen kann.
Aufmerksame Leser_innen haben schon bemerkt: Problematisch bei meiner Erklärung ist natürlich der Bezug auf Konstrukte, die ich eigentlich kritisiere, die ich aber benennen muss, um sie aufzeigen und kritisieren zu könnenWenn ich hier also von „Geschlecht“ bzw. „Männern“ und „Frauen“ spreche, meine ich damit nicht, dass es „natürlich“ zwei Geschlechter gibt, sondern dass die Gesellschaft in der ich lebe den Menschen diese sozialen Kategorien auferlegt und sie in diese einordnet, nach diesen bewertet und sich viele Menschen auch entsprechend solcher Kategorien verhalten und sogar fühlen. Da es jedoch keine haltbaren Belege für eindeutige biologische Geschlechter gibt, die soziale Festlegung auf solche eher zur Beherrschung als zur Befreiung von Menschen taugt und diese Kategorien also menschengemacht sind, sind sie und die Folgen dieser Kategorisierungen auch durch Menschen veränderbar. Ziel dieser Veränderungen könnte zum Beispiel eine Gesellschaft oder ein Zusammenhang sein, in dem Menschen nach Fähigkeiten und Bedürfnissen zusammen leben, arbeiten, spielen usw. – ob sie Angst vor großen Plätzen haben, schwanger werden können, Kraniche falten oder was auch immer. Ein Stück weit aufgebrochen werden die vormals gängigen Zuschreibungen und Umgangsformen glücklicherweise bereits jetzt schon durch queere Menschen.
Einige der mir bekannten, sich als autonom und gesellschaftskritisch verstehende Zusammenhänge von Menschen in Westeuropa funktionieren trotz bereits lange bekannter feministischer Kritik nicht nach hierarchiearmen und feministischen Mustern. Oft vielleicht unbewusst, oft aber auch aus Bequemlichkeit und Angst. Wie in anderen Zusammenhängen werden auch dort Personen(-gruppen) ausgegrenzt, deren Inhalte und Auftreten nicht männlichen, weißen und dominanten Mustern entsprechen. Gekennzeichnet sind diese Zusammenhänge meiner Wahrnehmung nach vielfach von selbstausbeuterischen Verhaltensweisen von männlich zu lesenden Menschen oder Menschen, die diese Verhaltensweisen übernommen haben, um innerhalb der Struktur bestehen zu können. Zudem von deren starker Orientierung an politisch greifbaren Ergebnissen (Output) und oftmals ihrer Geringschätzung der Prozesse, die jedoch notwendig sind, um Menschen mit anderen Hintergründen, Bedürfnissen und Fähigkeiten mitzunehmen und sie – das ist der entscheidende Punkt – das Zusammenwirken in diesen Kreisen auch verändern zu lassen. Wenn diese anderen Menschen bereits an den genannten Zusammenhängen beteiligt sind, verlassen sie solche Gruppen jedoch wahrscheinlich, wenn sie sich dort nicht gewertschätzt fühlen und ihre Anregungen keinen Widerhall finden. Die oftmals praktizierte Trennung von vermeintlich „privaten Bedürfnissen“ und „politischer Arbeit“ sorgen für eine Fortsetzung von genau den Politikmustern, die zu Hierarchien, (Selbst-)Ausbeutung und Ausgrenzung führen. Damit lebt in den irgendwie widerständigen Zusammenhängen die alte Polit-Makerei weiter fort und es dreht sich in den Gruppentreffen viel zu häufig um vermeintliche Sachzwänge und Zeitmangel, oft auch aufgrund fehlender Kraft und Lust, „anstrengende“ neue Dinge zu versuchen, die die eigene Praxis und Persönlichkeit in Frage stellen könnten, jedoch die gemeinsame Praxis von den althergebrachten Mustern wegbringen würde. Ursache dafür kann alles sein zwischen fehlender analytischer Tiefe, mangelnder Prioritätensetzung in der politischen Arbeit, übergroßer (unfreiwilliger) Eingebundenheit in Zwänge oder Angst bzw. Unwille Privilegien aufzugeben.
Ganz konkret nehme ich in Jena keine anarchafeministische „Szene“ wahr, sondern verstärkt verschiedene Personen und Strukturen, die sich mit herrschaftskritischen feministischen Analysen beschäftigen, darauf ihre Kritik aufbauen und versuchen ihre Praxis entsprechend zu gestalten. Ursächlich für das Fehlen einer entsprechenden Szene ist aus meiner Sicht zum einen die fehlende autonome Tradition und entsprechende Räume in Jena, die Menschen ab dem frühesten Alter einlädt sich mit alternativen Lebensentwürfen und radikaler Gesellschaftskritik zu beschäftigen und Strukturen vorlebt oder anbietet die Praxis gemeinsam zu entwickeln. Der Druck von außen auf sich entwickelnde Zusammenhänge darf auch nicht unterschätzt werden. Studierende werden frühzeitig in andere Städte oder Länder weg gelobt, Berufstätige bzw. Arbeitssuchende sind schwerwiegenden Konflikten um Löhne oder die ihnen zustehenden Transferleistungen ausgesetzt, wenn sie nicht mobil sein wollen oder können, Menschen mit Fluchterfahrungen können oftmals überhaupt nicht einmal Teil einer Szene sein. Wer sich aktiv und kontinuierlich an politische Arbeit binden kann und will, wird zudem oft vereinnahmt, bspw. durch Parteien oder Verbände, die präsent sind, den Anschein von wirksamer Gesellschaftskritik erwecken und zugleich Jobs, Einfluss und das Gefühl ein guter Mensch in einem guten Team zu sein, in Aussicht stellen.
Vor allem in den alternativen feministisch geprägten Zusammenhängen kommt hinzu, dass Menschen hier Wertschätzung für sich und andere lernen und praktizieren. Das führt konsequenterweise dazu, dass sie sich in zeitintensiven und gemeinsamen Prozessen neben dem politischen „Alltagsgeschäft“ grundlegend persönlich-privaten Themen widmen, die aber ja gerade politisch sind, weil sie die Möglichkeiten der Menschen alternative Strukturen aufzubauen und Kämpfe zu führen beeinflussen und die aufgrund sozialer Faktoren überhaupt erst im Leben dieser Menschen wirkmächtig wurden. Hierarchisch arbeitende output-orientierte Personen und Gruppen übersehen hier das Potenzial für Gesellschaftsveränderung und verkennen den politischen Gehalt dieser Praxis. Meiner Ansicht nach ist aber diese Selbstreflexion und Wertschätzung sozialer Prozesse die notwendige Ergänzung zu formalen herrschaftskritischen Strukturen und feministischer Argumentation und Praxis für jede einzelne beteiligte Person.
In den autonomen Zusammenhängen fällt mir zudem das sporadische Interesse an Konzepten kritischer Männlichkeit auf. Neben den Potenzialen, die darin liegen, dass männlich sozialisierte Menschen Muster der eigenen Handlungen, ihre Wirkungen auf Andere und Gruppen, sowie mögliches übergriffiges Verhalten reflektieren, hat diese Thematik noch jenes, mit den feministischen Selbstreflexionen sehr gut vereinbar zu sein. Mein Wunsch wäre, dass sich auf diesem Wege so viel Selbst_bewusstsein und Aufmerksamkeit für die Menschen umher in der alternativ-politischen Szene in Jena und generell entwickelt, dass offener Austausch über Bedürfnisse selbstverständlich wird. Mir scheint die (berechtigte) Sorge davor, übergriffig zu handeln, zu einer Sprach,- Praxis- und Kreativlosigkeit geführt zu haben, wie mit Bedürfnissen – bspw. sich Trost und Zuwendung zu wünschen; Menschen vor Begeisterung umarmen zu wollen; Streicheln, Küssen oder Sex teilen zu wollen, weil es den Beteiligten gerade gut täte – umgegangen werden könnte. Vor dem Hintergrund, dass für diese Körperlichkeiten keine privilegierten Beziehungen notwendig (aber möglich) sind, können feministische, kritisch-männliche und queere Praxen Wege aufzeigen, innerhalb der herrschaftskritischen Bezüge auch diese Nähe zu teilen ohne uns in de facto romantische Zweierbeziehungen fliehen zu müssen oder uns für Annäherungsversuche in einen alkoholisierten Zustand zu versetzen.
In Bezug auf die Sichtbarkeit von so benannten feministischen Forderungen fallen mir vor allem formalisierte Strukturen in Jena ein. In der Kommunalpolitik (Gleichstellungsbeauftragte und Gender Mainstreaming) und an der Hochschule (Gleichstellungsbeauftragte und Frauenförderpläne) werden in dieser Hinsicht leidenschaftslos rechtliche Pflichten erfüllt und versucht damit den Wirtschaftsstandort zu stärken oder den eigenen Job zu rechtfertigen. Legale Wege und konformes Verhalten können innerhalb des Patriarchats und in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung an diesen Stellen jedoch keinen radikalen Wandel erwirken, da sie gerade nicht dafür geschaffen wurden – stattdessen sollen sie befrieden, auf einen Schritt nach vorn folgen üblicherweise zwei Schritte zurück. Die wenigen engagierten Kämpfer_innen in den kommunalen Unterstützungsstrukturen für Betroffene von Diskriminierung oder Gewalt werden zudem von staatlichen und kommunalen Finanztöpfen abhängig gehalten, um die sie mit anderen Einrichtungen buhlen (müssen).
In Gewerkschaften (Equal Pay Days) aber in erster Linie innerhalb der politisch „links“ verorteten Parteien (Quoten und Queere Arbeitskreise) wird das Label Feminismus politisch benutzt, um im Kleinen die Anregungen dieser Bewegung aufzunehmen aber im Großen zugleich die alten Muster – hierarchisch und staatstragend – weiterzuführen. Eine Debatte über die Gestaltung einer herrschaftsfreien Gesellschaft gibt es hier nicht, stattdessen Auseinandersetzungen darüber innerhalb der bestehenden Verhältnisse möglichst viele Mittel und Kräfte für die eigenen Schwerpunkte zu organisieren. Dass dabei Staat nicht ohne Kapitalismus gedacht werden kann und Kapitalismus nicht ohne Ausgrenzung und Ausbeutung wird von den Akteur_innen an diesen Stellen wohl nicht so schwer genommen.
Da wollen Gelder aus staatlichen Töpfen verteilt werden, anstatt diese künstliche Knappheit in Frage zu stellen und die Kämpfe nach Freiheit und Sicherheit an verschiedenen Orten zu verbinden und die ganze Bäckerei zu erobern, anstatt nur ein Stück vom Kuchen zu fordern. Sogenannte Sachzwänge in den politischen Arenen und Grabenkämpfe innerhalb der vermeintlich verbündeten Struktur verhindern immer die grundlegenden Strukturveränderungen. Zugleich wird der Umsetzung der angeblich geteilten antirassistischen und feministischen Ziele durch radikalere Menschen und Gruppen Steine in den Weg gelegt.
Da wollen Posten und Machtpositionen erobert werden, um dann von diesen aus doch nicht für einen radikalen Wandel zu kämpfen, da auf einmal vermeintlich viel zu verlieren ist und immer neue politische Gegner_innen auftauchen, gegen die sich behauptet werden muss. (Es widerspricht sich da auch nicht in der eigenen Struktur feministisch aufzutreten und daheim gegen die Ex-Freundin gewalttätig zu sein und sie zu bedrohen – da die wissenden Genoss_innen den Schulterschluss mit dem Kader nicht aufkündigen, steht dem angestrebten Lohnarbeitsverhältnis und dem Aufstieg innerhalb der Struktur ja auch nichts im Wege.)
Da will Zeit und Kraft in politische Stellungnahmen, Kader_innenarbeit und Sitzungen investiert werden, weshalb die individuellen sozialen Beziehungen und solidarischen Netzwerke gar nicht erst entwickelt werden, die es bräuchte, um angstfreier und unabhängiger von traditionellen Beziehungsformen, Bossen, Ämtern und Vermieter_innen kritisieren und agieren zu können. Konkrete anarchafeministische Beziehungen mit konkreten Menschen an konkreten Orten können dafür jedoch der Startpunkt sein.
Wir alle sind verkorkst – allein schon durch unsere Sozialisation und Erfahrungen innerhalb dieser Gesellschaft – und wir alle stecken in verschiedenem Maße in Zwängen und Widersprüchen. Trotz vieler Widersprüche, in denen ich mich auch noch immer befinde, gibt es aber auch Bereiche, in denen ich meinen Standpunkt bereits bestimmt habe. Aber wer von den Menschen um mich her, will ihre_seine machtvolle Position ausnutzen und wer will sie abgeben, wer hat nur noch keine Sprache für die eigene Herrschaftskritik entwickelt, wer versucht egoistisch-opportunistisch durchzukommen und wer ist nicht mehr gewillt das kleinere Übel zu akzeptieren, welches das größere Übel überhaupt erst ermöglicht? Auf Grundlage dieser Klarheiten können wir mit Gleichgesinnten bereits jetzt konkrete Projekte beginnen und das gute Leben praktizieren, das allen möglich werden soll. Daneben erscheint es auch mir leider noch immer nötig Abwehrkämpfe gegen Ausbeutungen, Gewalt und Diskriminierungen im Hier und Jetzt zu führen und dafür das bestehende System zu benutzen. Dieses Benutzen kehrt sich jedoch um, wenn Menschen mehr Zeit und Kraft damit zubringen, anstatt alternative Strukturen aufzubauen, mit denen sie die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, Ausbeutungen, Normierungen und Vereinzelungen nicht nur für sich, sondern gemeinsam mit Anderen überwinden können. Wir müssen vieles lernen, das uns befähigt, uns mit uns auseinanderzusetzen und Standpunkte zu formulieren. Das uns befähigt mit anderen Menschen freie und gleichwertige Kooperationen einzugehen. Wir müssen vieles verlernen, das uns von Anderen unnötig abhängig macht und zugleich von ihnen isoliert. Das uns nur wertschätzen lässt, was der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nützt.
Herrschaftskritik ohne Feminismus, als auch Feminismus ohne Herrschaftskritik sind meiner Einschätzung nach unvollständig. Wenn mein Ziel eine befreite Gesellschaft ist, kann diese nicht dadurch erreicht werden, dass nur ein Teil der Gesellschaft frei ist und im ersten Fall beispielsweise alle Menschen ohne staatlichen und kapitalistischen Zwang leben aber eine Hälfte der Menschheit dennoch aufgrund der Zuordnung zu einem Geschlecht mehr Aufgaben und Gefahren ausgesetzt ist als die andere; der zweite Fall ist sogar undenkbar, da Geschlechterzuordnungen und -diskriminierungen innerhalb der kapitalistischen Logik gebraucht werden und Staaten durch diese Kategorien Menschen verwalten.
Darum: Für Emanzipation, Zärtlichkeit und soziale Kämpfe!