Kapitalistische Restrukturierung und Notstand
Mit Beginn der Krise von 2008 hat sich die seit den 70ern laufende kapitalistische Restrukturierung vertieft: Prekarisierung und Flexibilisierung, Senkung unseres Lebens- und Reproduktionsniveaus, Transformation des Staats vom Sozialstaat zum Disziplinarstaat, Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse. Die Staaten haben verschiedene Strategien gefunden, diese Restrukturierung zu verwalten. In der Peripherie, den Ländern des Arabischen Frühlings und in der Ostukraine, haben sie im Rahmen der Aufstandsbekämpfung zur Militarisierung des sozialen Konflikts gegriffen. Im europäischen Süden wurde die Schock-Therapie angewandt: Austeritätspakete, massive Bullengewalt, der gesellschaftliche Ausnahmezustand und die Kooptation von Teilen der Bewegung über linke Parteiprojekte (Podemos, Syriza).
In Frankreich hat die links-sozialdemokratische Regierung Hollands nach den Anschlägen vom 13. November 2015 den Notstand erklärt und ihn bis heute mehrfach verlängert. Anlass und Begründung mögen die islamistischen Anschläge des Jahres 2015 gewesen sein. Die durchgezogene Militarisierung der französischen Gesellschaft und Aussetzung demokratischer Rechte dient letzten Endes jedoch der Durchsetzung der kapitalistischen Restrukturierung trotz der politischen Legitimationskrise des französischen Establishments und gegen jeden Widerstand auch immer. Schon im November 2015 hatte es im Rahmen der Proteste gegen die UN-Klimakonferenz in Paris auch Proteste gegen den Notstand gegeben, im Februar 2016 übten Anarchist_innen kurzzeitig den Aufstand.
[Februar] Hartz IV auf Französisch: Loi El Khomri
Ende Februar stellte die französische Arbeitsministerin Myriam El Khomri ein neues Arbeitsgesetz vor. Für die französische Arbeiter_innenklasse wird es einen ähnlich krassen Bruch darstellen wie für uns damals die Agenda 2010 und Hartz IV. Das El-Khomri-Gesetz sieht vor: Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre. Abschaffung der 35-Stunden-Woche: die Wochenarbeitszeit soll punktuell auf 60 Stunden und für eine Dauer von 16 Wochen auf 46 ausgeweitet werden können. Der Kündigungsschutz soll gelockert werden. Für alle Arbeiter_innen soll eine persönliche Kartei eingerichtet werden, in welchem die Bosse ihre Aktivitäten dokumentieren und die die Bedingung für Sozialversicherung darstellt. Kollektive Tarifverträge werden ausgehebelt. Kurz: Das neue Gesetz stellt einen brutalen Angriff des Kapitals dar.
[März] Die Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz
Um dieses neue Projekt von Staat und Kapital zu verhindern, hat sich im März eine heterogene und widersprüchliche soziale Bewegung formiert. Am 9. und 31. März sowie am 9. und 28. April haben die Gewerkschaften zu Demonstrationen aufgerufen, an denen sich von Zehntausenden bis über eine Million Menschen beteiligten. Student_innen haben die Universitäten besetzt, Kulturarbeiter_innen Theater, verschiedene Leute andere öffentliche Institutionen, Schüler_innen blockierten mehrfach jeweils über 150 Schulen und stellten eigene Demos auf die Beine. Student_innen und Schüler_innen haben gemeinsam zu Aktionstagen aufgerufen. Es gab Autobahnblockaden. Geschäfte wurden blockiert, Politiker_innen und andere „Würdenträger_innen“ mit ganzen Demos zu Hause besucht. Am 31. März wurde zum ersten Mal der Pariser Platz der Republik besetzt und in den folgenden Nächten immer wieder neu besetzt. Diese neue Praxis hat sich in ganz Frankreich ausgebreitet. Mehr zu dieser Nuit Debout weiter unten. Diese Mobilisierungen und die nächtlichen Platzbesetzungen waren immer wieder Ausgangspunkt für aufständische Gruppen, die sich zu “wilden Demos” (manif sauvage), Scherben-Spontis und Plünderungen aufmachten. Barrikaden wurden errichtet und abgefackelt. Diese spontane Bewegung stellt sich zudem in Bezug zu anderen Kämpfen. Es hat zahlreiche Soli-Aktionen mit dem Streik der Bahnarbeiter_innen (z.B. Bahnhofsblockaden) und mit den Sans-Papiers und Migrant_innen(z.B. Verhinderung von Räumungen von Jungles/wilden Camps) gegeben.
[April] Der Hype um die Nuit Debout
Am 31. März wurde dazu aufgerufen, nach der Großdemo in Paris den Platz der Republik zu besetzen. Daraus entwickelte sich die Nuit Debout (deutsche: „Nachts auf den Beinen“ oder „Aufstand in der Nacht“), die allnächtliche Besetzung des Platzes der Republik. In insgesamt 60 französischen Städten haben nächtliche Platzbesetzungen nach dem Pariser Vorbild stattgefunden. An ihnen beteiligten sich Hunderte bis maximal 4000 Menschen. In der französischen und internationalen Presse ist viel über die Nuit Debout geschrieben worden. Wir, für unseren Teil, halten sie für eine ambivalente Praxis.
Auf der einen Seite wenden sich Tausende von Menschen von den Herrschaftsinstitutionen ab und bringen sich in Prozesse ein, an die sie selbst den Anspruch stellen, herrschaftsfrei zu sein. Während und im Zusammenhang mit den nächtlichen Platzbesetzungen werden Gespräche organisiert, Solidarität und gegenseitige Hilfe praktiziert. Es werden Themen wie Rassismus und Kolonialismus, die Situation der Migrant_innen im Jungle von Calais, der Generalstreik in Mayotte u.a. besprochen. Die Nuit Debout ist öfters auch Ausgangspunkt spontaner und militanter Demos gewesen._
Auf der anderen Seite gibt es informelle Hierarchien und läuft die vorgeblich direktdemokratische Nuit Debout (wie auch jede andere Vollversammlung) Gefahr, genau die Mechanismen demokratischer Staatsverwaltung zu kopieren, die sie kritisiert: Abstimmungen nach Mehrheitsprinzip, Sprecher_innen und Repräsentant_innen, Arbeitskreise, die z.B. eine neue Verfassung ausarbeiten wollen, Zentralisierung der Entscheidungsfindung. Bewegungsmanager_innen (von occupy und blockupy) und incognito auch linke Politiker_innen nutzen die Nuit Debout, um sich zu profilieren und Leute zu rekrutieren. Sie haben wohl auch informelle Absprachen mit den Bullen und der Stadtverwaltung getroffen, dass die Nuit Debouts weiterlaufen können, unter der Bedingung, sie nach 24 Uhr aufzulösen, keine Infrastruktur aufzubauen und das alles in einem losen Bullenkessel zu tun. Es handelt sich also um eine bereits staatlich domestizierte Praxis. Auf dem Platz herrscht sicher kein inhaltlicher Konsens, aber insgesamt tendiert der Diskurs zu pazifistischen und anti-neoliberalen Positionen und dem Gerede der 99% (also nicht zur Unterstützung direkter Aktion, militanter Taktiken und zu einer allgemein antikapitalistisch-klassenkämpferischen Praxis). Die Leute, die die Nuit Debout tragen, scheinen vor allem aus der weißen Mittelschicht und dem französischen Bildungsbürgertum zu stammen. Versuche, die Nuit Debout in die Banlieus zu exportieren, sind gescheitert. Bei alldem ist es also kein Wunder, dass linke Polit-Funktionär_innen wie Varoufakis und Jean-Luc Melenchon und andere auf dem Platz empfangen wurden.
Repression
Seit März demonstrieren Hunderttausende von Menschen gegen das Arbeitsgesetz, laut Umfragen lehnen es drei Viertel der Bevölkerung ab. So bleibt dem Staat nichts, als die Bewegung brutal zu unterdrücken. Demos laufen unter erheblicher Bullenpräsenz, teils im Spalier ab. Die Scheiß-Bullen greifen die Demos mit Knüppeln, Reizgas, Tränengas und Gummigeschossen an. Anfang Mai wurden jemandem in Rennes ein Auge ausgeschossen. Es gab bisher Hunderte von Festnahmen. Allein bei einer Schüler_innendemo im April wurden 130 Schüler_innen gekesselt und festgenommen. Das Büro der anarchosyndikalistischen CNT-f in Lilles wurde zweimal gestürmt und mehrere Genoss_innen wurden festgenommen. Zudem werden mehrere Spitzel und Provokateure eingesetzt, um im Verlauf der Proteste Demonstrant_innen zu verprügeln und festzunehmen. Sie sind mit Teleskopschlagstöcken und Reizgas bewaffnet.
Grenzen der Bewegung
Im April zeigte sich, dass eine Eskalation des Kampfes nicht allein an der staatlichen Repression, sondern auch an den inneren Grenzen der Bewegung scheiterte. Sie schaffte es nicht, sich zu vermassen und die Revolte zu verallgemeinern. Bis Mitte Mai gelang es nicht, den Widerstand auf die Arbeitsplätze auszuweiten und einen Generalstreik zu beginnen. Es blieb die Rebellion einer Minorität. Das liegt zum einen am gesamtgesellschaftlichen Klima und dem politischen Bewusstsein der Bevölkerung. Der ultranationalistische Front National bekam 2014 bei den Europawahlen schließlich ein Viertel der Stimmen. Das liegt zum anderen daran, dass die radikale Szene in Frankreich, mal abgesehen von der kleinen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT-f, am Arbeitsplatz kaum präsent ist. Und das liegt drittens an der Rolle der großen Gewerkschaften wie der an die kommunistische Partei angeschlosseneN CGT. Von Beginn an bemühte sie sich um eine Befriedung der Rebellen und eine Deeskalation des Konflikts. So hielten die Gewerkschaftsführer_innen ihre Demos von den gewaltsamen Auseinandersetzungen weg oder unterbunden direkte Aktion und militante Taktiken aus den Demos heraus. Die CGT weigerte sich lange, der immer lauteren Forderung nach einem Generalstreik nachzugeben. Das gipfelte Mitte Mai dann in Straßenschlachten zwischen rebellischen Jugendlichen und Anarchist_innen auf der einen Seite und CGT-Ordnern und Bullen auf der anderen.
[Mai] Eskalation des Klassenkampfs
Im Mai erhöhte sich das Konfliktniveau. Das Gesetz sollte bald verabschiedet werden und am 1. Mai kam es anlässlich des Kampftags der Arbeit zu Massendemos und Riots. Am 10. Mai wurde dann bekannt gegeben, dass das neue Arbeitsgesetz per Dekret, also ohne parlamentarische Abstimmung, verabschiedet werden sollte. Nach dem Artikel 49-3 der französischen Verfassung kann ein Gesetz so per Dekret erlassen werden, wenn es nicht innerhalb von zwei Tagen ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen die Regierung gibt. Am selben Tag verlängerte der Senat den Notstand bis Ende Juli. Dank dieses Manövers konnte in den folgenden Tagen z.B. Aktivist_innen verboten werden, an Demos teilzunehmen. Mehrere Abgeordnete der “sozialistischen”n Regierungspartei PS lehnten sich pro forma gegen ihre eigene Partei auf. Sie brachten gemeinsam mit Mitgliedern rechter Parlamentsparteien einen Misstrauensantrag gegen ihre eigene Regierung ein. Letzten Endes blieb es bei einem demokratischen Spektakel. Am 12. Mai scheiterte der Misstrauensantrag gegen die Regierung. Damit war das neue Arbeitsgesetz durch.
Schon zum 10. Mai und in den folgenden Tagen kam es zu spontanen militanten Demos. Dabei wurden auch Parteibüros der regierenden PS verwüstet und Molotow-Cockatils geworfen. Mehrere Gewerkschaften riefen für den 17. und 19. Mai zu Demos und verlängerbaren Streiks auf. Dabei kam es zu krassen Straßenschlachten: Mollies gegen Gummi-Geschosse, Tränengas und Schlagstöcke. Gleichzeitig kamen die Streik- und Blockadeaktionen im Energie- und Transportsektor in Fahrt und sorgten für Versorgungsengpässe im ganzen Land. Teilweise wurden Werksbesetzungen und -blockaden von Bullen geräumt. Ein kleines Schmankerl zwischendurch: Am 18. Mai demonstrierten Hunderte Bullen in mehreren Städten gegen die Gewalt gegen Polizist_innen.
Einige Worte zum Verhältnis zwischen Großgewerkschaften und Staat: Am 12. Mai wurden die Demos von den Ordnern der CGT angegriffen. In Paris gingen 200 Ordner, teilweise mit Teleskopschlagstöcken und großen Reizgasflaschen bewaffnet, gegen die militanten Jugendlichen und Anarchist_innen vor. Die Schlägertypen der Gewerkschaftsbürokratie mussten letzten Endes bei den Bullen Schutz suchen. In Marseille das gleiche Spiel. Am 17. Mai griffen mit Schlagstöcken und Helmen bewaffnete CGT-Ordner gemeinsam mit Bullen die Demo an! All das erinnert an den 20. Oktober 2011, als die roten Bullen der kommunistischen KKE und PAME in Athen das Parlament vor der aufständischen Masse verteidigten. Nun hat auch die kommunistische CGT gezeigt, dass sie, wenn es hart auf hart kommt, auf der Seite des Staats steht.
Solidarität in Deutschland
In all der Zeit kam es in Deutschland zu einigen Soli-Aktionen. In Leipzig und Frankfurt gab es militante Spontis. Die FAU Dresden machte nach der Stürmung des CNT-f-Lokals in Lille eine kleine Demo. Unter anderem in Leipzig und Berlin wurden Nuit Debouts organisiert. Die scheinen zwar Exil-Französ_innen angezogen zu haben. Es bleibt dennoch fraglich, warum ein so problematisches und bereits domestiziertes Modell wie die Nuit Debout unbedingt nach Deutschland importiert werden muss. Nach Bemühung der typischen Bewegungsmanager_innen wurde zum 15. Mai ein internationaler Aktionstag angestrengt, der in einem Flop endete. In den kommenden Wochen und Monaten wird eine der praktischsten Möglichkeiten der Solidarität gegenüber der Bewegung in Frankreich wohl in der finanziellen Unterstützung bei Gerichtskosten und in der Gefangenensolidarität bestehen.
[Juni] Haltet euch auf dem Laufenden
Es bleibt offen, wie der Kampf gegen das französische Arbeitsgesetz ausgeht. Für Anfang Juni sind weitere Streiks im Transportwesen angesagt. Seit Ende Mai laufen auch in Belgien teils militante Massenproteste gegen ein ähnliches Gesetzesprojekt an und es ist noch nicht abzusehen, welche Dynamiken sich daraus ergeben.
Fußnote
(1) Wir waren selbst nicht in Frankreich vor Ort. Der Text basiert v.a. auf Artikeln aus diversen Zeitungen, den Berichten, die auf linksunten.indymedia unter dem Namen Johnny – siehe: linksunten.indymedia.org/user/3092/blog – veröffentlicht wurden und Gesprächen mit Genoss_innen der CNT-f.