Perspektiven auf den 20. April

von zwei anarchistischen Genossen

Die Proteste und Aktionen gegen den Fackelmarsch der Nazis anlässlich des Führergeburtstags wurden im Nachgang in der Presse und innerhalb der Szene diskutiert, unter anderem in einem Text von Pekari. Mit unserem Artikel wollen wir diese wichtige Diskussionen fortsetzen, eine tiefergehende Analyse anbieten und unsere Schluss­folger­ung­en daraus klarmachen. Zur Erinnerung: Am 20. April führten 200 Anhän­ger_in­nen von Thügida einen Fackelmarsch in unserer Stadt durch. 3000 demonstrier­ten dagegen. Im Kontext dieser breiten Proteste kam es zu zahlreichen unge­hor­­samen und militanten Aktionen.

Militarisierung des Stadtzentrums und die Strategie der Bullen

Schon Wochen und Tage vor dem 20. April begannen Staat und Presse radikale antifaschistische Akteure in Jena anzugreifen. Während der Vor­be­reitungen für die Gegenproteste wurden mehrere Leute angequatscht und mit Strafverfolgung wegen zurückliegender Demos bedroht (siehe das Statement der Roten Hilfe). Am 18. April erschien ein Artikel in der OTZ, der vor “ge­waltbereiten Linksextremisten” warn­te, so fleißig die altbekannte Spaltung zwi­schen guten und bösen Demon­strant_innen betrieb, die Gegen­aktionen delegitimierte und so auf die Bullen­repression vorbereitete. Am Vor­abend patrouillierten mindestens zwei Wannen auf der Demoroute, um Plaka­tieren, Graffitis und andere Vorbereit­ung­en zu verhindern. Am großen Tag wurde der Demo-Bereich dann voll­ständig mit Hamburger Gittern abgerie­gelt und ein polizeistaatlicher Ausnah­me­zustand ein­gerichtet. Ein Aufgebot von 800 Bullen der Bundes- und ver­schie­dener Landespolizeien, USK- und BFE-Ein­hei­ten, eine Hundestaffel, zwei Wasser­werfer (darunter der fancy WAWE 10000), ein Räumpanzer, ein Kamera­wagen und ein Helikopter wurden aufgeboten, diese Zone zu halten. Ansonsten waren kaum Bullen in der Stadt unterwegs. Wie sich zeigen sollte, bestand die Bullenstrategie darin, diesen militarisierten Kern im Stadtzentrum zu halten und den Rest der Stadt kräftesparend den Gegen­protesten zu überlassen. Das war dann sozusagen der Spielplatz, wo wir uns mit Spontis, Kundgebungen und auch sonst austoben durften. Bei Versuchen, die Hamburger Gitter zu überwinden wurde von den Bullen jedoch umso härter zugelangt: Leute wurden gepfeffert, mit Tonfas ver­möbelt, getre­ten, eine Person wurde in die Leutra geschmissen, eine andere bekam von einem Polizeihund eine ordentliche Fleischwunde verpasst und wird wohl dauerhafte Schäden davon­tragen. So wur­de den Nazis von Thügida die Demoroute erfolgreich frei­gehalten.

Darin zeigt sich ein veränderter Umgang staatlicher Behörden mit der faschistischen Raumnahme in Jena. Seit den 2000ern waren Nazi-Demos immer wieder verhindert worden, indem breite zivilgesellschaftlich-bürgerliche Bünd­nis­se in informeller Zusammenarbeit mit den Behörden (egal ob gewollt oder einfach de facto) deren Routen bloc­kie­rten. Dieser unausgesprochene Konsens aus Zivilgesellschaft und staatlichen Repressionsbehörden wurde schon zur AfD-Demo vom 9. März 2016 von Seiten der staatlichen Akteure aufgekündigt. Zum 20. April entschied das Geraer Verwaltungsgericht dann, den Fackel­marsch militanter Neonazis zu Hitlers Geburtstag zuzulassen und die Polizei setzte diesen rigoros durch.

Das Trauerspiel des bürgerlichen Protests

Die zivilgesellschaflichen Gruppen schaff­ten es lange Jahre, Nazi-Demos über informelle Zusammenarbeit mit den Behörden zu verhindern. JG, Ak­tions­­netzwerk, Regierungs- und Staats­­linke, Kirche und Stura be­schränk­ten sich auf gewisse Aktions­formen, kon­trollierten den Protest und hegten ihn ein, während Bullen und Stadt­ver­waltung ein gewisses Maß an Rechts­verletzung und Grenzüber­schrei­tung tolerierten. Diese Zusammenarbeit wur­de jetzt aufgekündigt. Das zwingt alle Beteiligten dazu, sich neu zu orientieren, sich die eigenen Ziele be­wusst zu machen und dement­sprech­end zu handeln. Den zivilgesell­schaft­lichen Gruppen geht es immer offen­sichtlicher in erster Linie darum, das Image Jenas als weltoffene, bunte, tolerante und liberale Science-City zu ver­tei­di­gen und sich als städtisch/staat­lich anerkannte Akteure zu profilieren. Folglich genügt es ihnen, auf Kultur- und Bratwurstmeilen oder (für die Mutigen) sogar am Hamburger Gitter einen sym­bo­lischen, will heißen, wirkungslosen, Protest zu inszenieren.

Alle anderen, die aus den verschie­den­sten Gründen dafür kämpfen (müssen), den Nazis effektiv Raum und Hand­lungs­­fähigkeit zu nehmen, sind ange­sichts dessen gezwungen, neue Wege suchen. Das ist am 20. April über offensive, militante und Sabotage-Aktionen passiert (mehr dazu weiter unten). Diese Neuorientierungen führen jedoch nicht nur mit den Bullen, son­dern auch innerhalb des antifa­schis­tischen Einheitsfront-Lagers zu Kon­flikten. So kamen z.B. vom JG-Lauti Ansagen, das Flaschenwerfen sein zu lassen. Sie hat damit ihre Rolle als Ordnungsmacht innerhalb der Proteste bestätigt.

Schwarz-bunt und kreativ-militant. Eine Vielfalt an Taktiken und ein spontanes Bündnis.

Wie schon angeschnitten, haben sich zum 20. April sowohl das Konfliktniveau gesteigert als auch das Aktions­reper­toire erweitert. Mehr Bezugsgruppen haben sich an militante Praktiken rangewagt und sich dabei von den zivil­ge­sellschaftlichen Gruppierungen frei­ge­macht. Der Jugendblock von Jugend gegen Rechts (JgR) setzte sich über das Demonstrationsverbot hinweg und zog über mehrere Stunden hinweg spontan und unangemeldet durch die Stadt. Es gab einen Blockadeversuch auf dem Engelsplatz, der von den Bullen schnell beendet wurde, während Hunderte Bürger_innen tatenlos zu­schau­ten. Leu­te zeigten Zivilcourage und ver­prü­gel­ten an mindestens zwei Stellen Nazi-Späher. Durch einen Kabel­brand bei der Bahn wurde die Zuganreise der Nazis sabotiert. Später kam es zu Flaschen- und Steinwürfen auf die Nazi-Demo und Scharmützeln mit den Bullen. Die ganze Zeit unterwegs waren außerdem die Rhythms of Resistance (RoR) Gruppe und ein Team von den Demo-Sanis.

Darin spiegelt sich eine Vielfalt an Taktiken wieder, wie wir sie ausdrück­lich begrüßen. Wir sind der Ansicht, dass sogenannte friedliche und mili­tante oder symbolische und direkte Aktion­en nicht gegeneinander ausge­spielt, sondern stattdessen als gleich­wertige Beiträge zu einem kämp­ferisch­en Antifaschismus anerkannt werden sollten. Zumindest solange die Einen sich nicht auf bürgerliche Ideologie beziehen (“Demokratie und Tole­ranz”) oder versuchen, eine pazifis­tische Linie auf­zuzwingen (“friedlicher Aktions­kon­sens”) und die Anderen nicht in Macho-Muster (“nur Sportgruppe zählt”) oder Gewalt­fetisch (“brecht ihnen die Kno­chen”) verfallen. Soli­dar­isch auf­einander bezogen und koordi­niert können diese verschiedenen Tak­tiken eine größere Wirkung erzielen und verschiedensten Menschen die Mög­lichkeit geben, sie zu beteiligen. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass Medien, Politiker_innen und Zivil­gesell­schaft regelmäßig versuchen, in gute friedliche und böse gewalttätige Demon­strant_innen zu spalten. Dieser Spaltung müssen wir im Versuch, uns der Einhegung, Befriedung, Kontrolle und Repression zu verweigern, ent­gegenwirken.

Bei all dem kam es zu einem spontanen Aktionsbündnis verschiedener sozialer und politischer Gruppierungen. Zeitwei­se waren Provinzantifas, radikali­sierte Schü­ler_in­nen, zugezogene Stu­dent_in­nen, Punks im 90er-Style, Ultras, mig­rant­ische Jugendliche in La-Coste-Jog­ging­­anzügen und junge Arbeiter_in­nen ge­meinsam unterwegs und versuchten, auf die Demoroute zu kommen. Im Gegen­satz zu den Bemüh­ung­en, mit den autoritären und Staats­apparaten zu klüngeln (auch bekannt als “Antifa-Bündnispolitik” oder seit neus­tem viel­leicht als “gesell­schaft­licher Anti­fa­schis­­­mus” – da müsste Peka­ri uns mal über dieses neue Kon­zept aufklären), ist das eine gesell­schaftliche Bündnis­kon­stel­lation, wie wir sie ausbauen sollten.

Flaschenhagel und Gefangenen­befreiung

Es wurde über Stunden hinweg nicht geschafft, die Demoroute zu besetzen und die Demo zu verhindern. Das war ganz schön ernüchternd. Als die Nazis dann aber losliefen, kam es zu einer krassen Dynamik. Ein für Jenaer Verhältnisse beachtlicher schwarz-bunter militanter Block bildete sich und griff die Nazi-Demo an verschiedenen Stellen an. Neben aggressiven Sprech­chören, wurden Wasserbomben, Kartof­feln, Flaschen und Steine über Ham­burger Gitter und Bullenreihen auf die Glatzen geschmissen. Für einige Faschos endete die Hitler-Party so im Krankenhaus. Drei Bullenwannen wur­den demoliert. Für viele von uns kam das ziemlich überraschend. Trotzdem sollten wir uns keine Illusionen machen. Das war keine allgemein aufständische Situation, sondern es war leider immer eine Minder­heit, die derartige militante Prak­tiken anwendete.

Nachdem die Nazis ihren Spießrutenlauf beendet hatten, folgten die Bullen dem Schema F. Ein USK-Greiftrupp griff zwischen Phyletischem Museum und Spielothek jemanden raus und wollte ihn abführen. Die Leute waren des­wegen ziemlich aggro und es bildete sich ein Mob von um die Hundert Leuten, viele vermummt, die den Greiftrupp umzingelten, Sitzblockaden und Ketten bildeten, ihn angriffen und einfach nicht gehen ließen. Herbei­gesausten Wannen wurden Mülltonnen in den Weg gestoßen. Die Bullen hatten sichtliche Mühe und brauchten so um die 10 Minuten, um sich freizukämpfen. Wir legen die Hand dafür nicht ins Feuer, aber nach Hörensagen ist die fest­genommene Person sogar davonge­kom­men. Dafür wurden vor Ort zwei-drei andere Leute abgeführt. Klar, in anderen Städten hätten die Bullen mächtig auf die Fresse gekriegt, aber für Jena war dieses Maß an kollektivem Ungehorsam und Widerstand gegen die Staatsgewalt schon was Neues.

Nachträgliche Repression

Während der Aktionen und nach der Auswertung des Bild- und Filmmaterials gab es 6 Ingewahrsamnahmen und 23 Verletzte. Eine Person wurde vom bay­rischen USK direkt vor der Haustür ab­ge­griffen. Es gab eine kleine Kund­gebung vor der Gefangenen­sam­mel­stelle (Gesa) in der Kahlaischen Straße. Damit zukünftig mehr Leute kommen und die Gefangenen unterstützen, muss das Ganze das nächste Mal besser organisiert und bekannt gemacht wer­den. Die Gefangenensolidarität sollte keine ausschließlich profes­siona­lisier­te anwältliche oder Rote-Hilfe-Betreuung, sondern eine eigene, von vielen Men­schen getragene politische Aktion sein. Denn Gefangennahmen und Repression allgemein sind keine tech­nischen Ver­fahren, sondern ein politi­scher Angriff auf uns alle. In der Woche nach dem 20. April wurde wieder über “eine neue Qualität der Gewalt”, “Krawalle” und “linke Steinewerfer” rumgejammert und die Bildung einer Sonderkommission bestehend aus Jeaner Bullen und Staatsschutz, der Soko „Fackel“, bekannt gegeben. Diese wird das Video- und Bildmaterial aus­werten und die Straf­verfolgung aus­weiten. Wir vermu­ten, dass es bei der Soko „Fackel“ nicht bloß um den 20. April geht, sondern dass sie eingerichtet wurde, um der in letzter Zeit deutlich selbstbewussteren und aufmüpfigeren Jenaer linksradikalen und anti­autoritär­en Szene etwas ent­gegen­zusetzen. Und selbst wenn es nicht so ist, wird das der Effekt sein. Insofern dürfen wir uns in den nächsten Monaten auf mehr Bullen­terror und Behördenstress freuen.

Ausblick

Wir sind also der Meinung, dass der zivilgesellschaftliche Protest und das Bündnis mit ihm am Ende sind. Wer die Glatzen wirklich stoppen will, muss den Rahmen, den Zivilgesellschaft und Bul­len stecken, überwinden. Das geht über eine Vielfalt an Taktiken, auch mili­tan­ten, wie es sich am 20. April abge­zeich­net hat. Im Nachhinein und für die Zukunft stellen wir fest, dass die Bullen­strategie auch insofern sabotiert hätte wer­den können, hätten wir im Hinter­land, unserer Spielwiese, Chaos gestif­tet, Bullenkräfte abgezogen und so den militarisierten Kern aufgeweicht und gleichzeitig gezielt angegriffen, hätten wir also so Spielraum für Blockaden und andere Aktionen gegen die Nazis ge­schaf­fen. Dafür braucht es mehr ent­schlossene Bezugsgruppen und damit meinen wir nicht Leute, die mal einen Tag zusammen rumhängen, sondern die sich längerfristig finden, vernetzen, ei­ge­ne Projekte für so einen Tag vor­be­rei­ten und auf die Repression einstellen. Doch das Hindernis für eine offensive Strategie von unserer Seite sind nicht nur die Bullen, sondern auch der Staat in der Bewegung, die Ordnungsmächte innerhalb der Proteste (JG, Staatslinke, Stura und andere) und der Staat in den Köpfen, die verin­ner­lich­ten Gesetze, der Gaube an Recht und Ordnung. All das wird uns auch in der Zukunft weiter be­schäf­tigen. Die Nazis haben eine Demo zum Todestag von Rudolf Hess am 17. Au­gust angekündigt. Und es ist zu er­warten, dass AfD und Nazis von Thügida und co. auch danach die seit Sommer 2015 verfolgte „Frontstadt-Politik“ in Jena weiterfahren und versuchen wer­den, durch regelmäßige Präsenz und De­mos die “Antifa-Hochburg” zu­rück­zu­ero­bern.