Gera: Antifa bleibt Landarbeit – Strukturen in der Provinz schaffen und verteidigen

Veröffentlicht Anfang Juni auf linksunten und auf landarbeit.blogsport.de

Zur Situation in der Provinz

Antifaschistische Strukturen in der Pro­vinz basieren meist auf persönlichen Kon­tak­ten und auf kleinen subkultur­ellen Milieus. Sie sind überschaubar und beschränken sich in der Regel auf kon­kretes Handeln zu gegebenen Anlässen. Eine inhaltliche Ausdifferenzierung, De­batten, Diskurse, Dissens wie in größer­en Städten und Metropolen mit per­sonell starken Gruppen können selten stattfinden. Antifa auf dem Land ist undogmatisch. Oft hängt die Arbeit vor Ort stark an einzelnen Personen. Ein Rück- oder Wegzug Einzelner kann die Handlungsfähigkeit lokaler Gruppen ein­schränken oder gar zum Erliegen brin­gen.

Die Überschaubarkeit der Szenen führt unweigerlich auch zu einem höheren Risiko einzelner Agierender – Aktionen können sowohl von politischen Gegnern als auch von staatlichen Repressions­organen leichter zugeordnet werden.

Von Vorteil ist, dass auch mit verhältnis­mäßig wenig Aufwand schnell Öffent­lich­keit hergestellt werden kann; dass Deutungshoheiten in der Provinz bei überschaubarer Anzahl anderer Akteur­*­innen einfacher gewonnen werden kön­nen. Konzerte, Vorträge und Presse­arbeit gestalten sich teilweise unkom­pli­­zierter und erfolgreicher. Dies gilt aber auch für den politischen Gegner.

Die extreme Rechte macht sich dies momen­tan besser zu Nutze. Akteur­*innen ziehen bewusst in die Provinz, schaffen und stärken Strukturen und können den öffentlichen Raum, das Klima eines Provinznestes entscheidend beeinflussen, oft sogar bestimmen.

Aufgrund der Job- und Studienlage, aber nicht zuletzt auch eben wegen des polit­ischen Klimas und einer Armut an subkulturellen (und damit identitäts­stiftenden) Angeboten, zieht es linke Jugend­liche tendenziell in die Metropo­len, in Hochschulstädte und Ballungs­räume. Gleichzeitig hemmt die Abwander­ung aus der Provinz das Ent­stehen von attraktiven Strukturen – ein Teufelskreis.

Neonazis hingegen erwerben Landgast­höfe und Gehöfte, eröffnen Szenelo­kalitäten dort, wo wenig Gegenwehr erwartet wird, und arbeiten auf national befreite Zonen hin, die außer bei gelegentlichen „Strafexpeditionen“ der städtischen linken Szene relativ unbe­hel­ligt auf- und ausgebaut werden können.

Antifaschistische Arbeit auf dem Land funktioniert aufgrund der provinziellen Verhältnisse und einer weit verbreiteten konservativen bis reaktionären Grund­haltung in ländlichen Gegenden grunds­ätzlich etwas anders, so dass dies auf Szenen beispielsweise in Leipzig, Jena oder Berlin durchaus befremdlich wir­ken kann.

Vernetzung und Bündnisarbeit sind in der Provinz notwendiger und wichtiger, da die wenigsten Gruppen aus dem Stand eine kritische Masse an Men­schen mobilisieren können. So bleibt den Aktiven oft nichts anderes übrig, als mit Ortsgruppen von zumindest halb­wegs progressiven und integren Parteien wie LINKE, SPD, B90/ Die Grünen, Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerbündnissen zusammenzuarbei­ten. Die sich daraus ergebenden inhalt­lichen und programmatischen Ein­schränkungen sind für die Kommuni­kation mit (groß-)städtischen Gruppen bzw. für die Mobilisierung von Antifa­schist*innen und radikalen Linken aus den Ballungsräumen hinderlich.

Diesen fehlen durch ihre beneidens­werten gefestigten Szenen und eta­blier­ten Strukturen aber auch das Ver­ständnis und der nüchterne Blick auf die Situation vor Ort.

Auch mit einer einzelnen antifaschis­tischen Demo unter Beteiligung großer Gruppen ist selten viel erreicht, wenn sich von den 500 erschienenen Men­schen 470 am selben Abend wieder in ihren komfortablen Kiez und ihre Szen­elokale zurückziehen. Solche Demon­stra­tionen, die einmal im Jahr die Käffer fluten, machen ansässigen Neonazis aber zumindest ihre Wohlfühlzonen für den Moment streitig.

Die in örtlichen Kleinstgruppen Agie­renden jedoch müssen ihre Kämpfe jeden Tag führen, begegnen Nazis und anderen politischen Gegnern ständig im Alltag und sind nach größeren Aktionen oft genug wieder sich selbst überlassen.

Eine große Demo kann allerdings gleich­sam helfen, Menschen zu gewin­nen, die noch nicht in dem Maße poli­tisiert sind wie wir bzw. mit links­radikalen Ideen sympathisieren, aber noch nicht organisiert sind.

Dennoch reicht das natürlich lange nicht aus. Wenn wir den Kampf ums Ganze führen und die Verhältnisse in Frage stellen wollen, können wir uns nicht auf Kieze beschränken, sondern müssen auch die Auseinandersetzung mit und in der Provinz angehen.

Wir wollen lokale Gruppen besser ver­netzen, Recherchestrukturen ausbauen, Regionalplena organisieren und die Kommunikation verbessern, um in die Lage zu kommen, auch kurzfristig handlungsfähiger zu werden.

Es ist notwendig, Freiräume zu er­kämpfen und Anlaufpunkte zu schaffen. Viele provinzielle Regionen kommen über den Versuch, solche Räume auf­zubauen nicht hinaus, weil Projekte im Keim erstickt werden – sei es durch permanente Angriffe von Nazis oder seitens der örtlichen Behörden, die sich alle Mühe geben, Steine in den Weg zu legen.

Umso mehr sind diese Orte und Pro­jekte essentiell, damit von ihnen aus­gehend die Provinz inhaltlich und (sub­)­kulturell mit Leben gefüllt werden kann.

Genau hier braucht es aber die fort­währende Unterstützung durch starke städtische Strukturen und den Willen, dass alle Hand in Hand arbeiten, um antifaschistische Räume zu gestal­ten

Warum am 10.09. nach Gera?

Gera scheint alle Eigenschaften der (nicht nur) ostdeutschen Provinz in sich zu vereinen: Eine zu großen Teilen des­interessierte Zivilgesellschaft, Nazis, die sich praktisch bewegen können wie sie wollen, eine mehr und mehr ausster­bende Kulturlandschaft, Wegzug vieler Engagierter in die Ballungsgebiete und Hochschulstädte und ostdeutsches Spieß-­ und Wutbürgertum.

Als das Rechtsrockfestival Rock für Deut­schland vor einigen Jahren noch flo­rierte, war dieses Event immerhin einmal im Jahr ein Grund für Antifa­schist*innen nach Gera zu reisen.

Das Rock für Deutschland ist seit 2014 Geschichte, an dessen Stelle sind Ver­anstalt­ungen getreten, die sich zwar aus dem gleichen Spektrum generieren, für Gegenproteste aber weitgehend un­interessant sind. Sogenannte Bürger­initiativen wie Wir lieben Gera, Wir lie­ben Ostthüringen oder Thügida konnten in der Vergangenheit oftmals unwider­sprochen durch Gera marschieren und den Boden bereiten für eine Vielzahl von Angriffen auf linke Projekte, ge­flüchtete Menschen und Antifaschist*in­nen.

Die Akteure sind tief in der Naziszene verwurzelt und bestens mit dem Um­land, den Städten, Gemeinden und Dör­fern vernetzt. Ausgehend von Orten wie Gera und Greiz fahren die Faschist*in­nen Woche für Woche von Kaff zu Kaff und tragen ihre Menschenfeindlichkeit und ihren Rassismus in die Provinzen Thüringens, Sachsens und Sachsen-Anhalts.

Erst Anfang Juni zielten in Gera zwei Männer mit einer Schusswaffe auf eine vermeintlich Geflüchtete, die mit ihrem Kind unterwegs war. Aktionen wie diese und die Tatsache, dass ein großer Auf­schrei mittlerweile ausbleibt, machen klar, dass die rassistische Dauerbe­schal­­lung Wirkung zeigt und in breiten Teilen der Bevölkerung angekommen ist.

Eine Gegenöffentlichkeit kann immer schwe­rer aufgebaut werden. Die we­nigen verbleibenden linken oder alter­nativen Projekte im Umkreis kämpfen mit massiven Bedrohungsszenarien und Überfällen durch Nazis, mangelnder Solidarität und der Willkür der Stadt­behörden.

Stadt, Land, Fluss verteidigen!

Stellvertretend für alle Provinzen, die von den gleichen Problemen betroffen sind und in Solidarität mit den Men­schen, die dort jeden Tag eingeschüch­tert, bedroht, angegriffen, gedemütigt und am Leben gehindert werden, wollen wir für antifaschistische Strukturen und linke Freiräume auf die Straßen gehen. Wir wollen den Grundstein für eine kontinuierliche antifaschistische Prä­senz in der Provinz legen.

Lasst uns den Nazis zeigen, dass ihnen die Straßen, auf denen sie sich momen­tan so wohlfühlen, nicht gehören. Zeigt im Schulterschluss mit der Provinz, dass es sich lohnt, für antifaschistische Inhalte zu kämpfen.

Setzt ein Zeichen mit uns, dass die ostdeutschen strukturschwachen Regio­nen noch nicht aufgegeben sind, dass sich Antifaschismus und der Kampf ums Ganze nicht nur in den Metropolen abspielen.

Wir rufen dazu auf, am 10.09.2016 gemeinsam mit einer Demonstration die Provinz zu fluten und im Anschluss bei einem linken Hoffest mit Musik Kontakte zu knüpfen und den Tag ausklingen zu lassen.

Weitere Infos folgen hier und auf dem Aktionsblog: http://landarbeit.blogsport.de/.