Die Proteste und der Hungerstreik gegen die Abwicklung der Medizinischen Akademie Erfurt im November und Dezember 1992
von Kevin
1992 wurde die geplante Abwicklung der Medizinischen Akademie Erfurt (MAE) bekannt gegeben. Dagegen bildete sich eine massive Protestbewegung, deren Aktionsrepertoire von Demos bis hin zum Hungerstreik reichte und die sich als Fortsetzung der Erfurter Donnerstagsdemos(1) verstand. Sie konnte sich nicht durchsetzen. Die staatliche MAE wurde Ende 1993 dicht gemacht. Die Lücke wurde durch ein privates Versorgungskrankenhaus geschlossen.
Gescheiterte Widerstände der 90er
In den letzten Jahren werden verstärkt die Antifa- und Hausbesetzer_innen-Legenden aus den 90ern rausgekramt. Ein Verständnis dieser Zeit allein als Abwehrkampf der Antifa gegen Nazis und deutschen Mob greift aber zu kurz. Nach der Wende setzte in Ostdeutschland eine durchgreifende kapitalistische Umstrukturierung ein (zunächst vom fordistischen DDR-Staatskapitalismus hin zu einer Peripherie innerhalb des postfordistischen Kapitalismus in der BRD): Deindustrialisierung, Privatisierung, Massenarbeitslosigkeit und Auswanderung gen Westen. Sicher stimmt es, dass die Unzufriedenheit damit vor allem in eine rechte und nationalistische Richtung politisiert wurde („Wir haben nichts und den Ausländern geben sie alles!“) und viel zu selten Kämpfe gegen die Angriffe von Staat und Kapital geführt wurden. Trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass es dennoch Protest- und Widerstandsbewegungen gegen die dauerhaften Abwicklungen und Massenentlassungen gab – auch in Thüringen. 1990 wurden die Kaligruben im Werragebiet von den Arbeiter_innen besetzt. 1991 protestierte eine Jugendbewegung zum Erhalt des Radiosenders DT64. In Bischofferode besetzten die Kali-Kumpel 1993 die Betriebe und machten einen Hungerstreik. 1996/1997 kam es zu Protesten, Wald- und Kranbesetzungen gegen den Bau der Thüringer Waldautobahn. Letzten Endes ist der Großteil dieser Bewegungen gescheitert. Teil dieser Geschichte sind auch die Proteste und der Hungerstreik zum Erhalt der Medizinischen Akademie Erfurt (MAE).
Die Medizinische Akademie Erfurt (MAE)
Die MAE wurde 1954 gegründet. Während der Wende 1989 gab es ein paar Demokratie-Arbeitsgruppen und Runde Tische und eine Demo gegen Personalmangel, tatsächlich gefolgt von Neueinstellungen. Außerdem wurde eine Vertretung des medizinischen Personals gegründet, die sich für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn stark machen sollte. 1992 wurde die MAE in Medizinische Hochschule Erfurt (MHE) umbenannt, kurz darauf wurde bekannt, dass sie geschlossen werden sollte. Die Begründung: Thüringen habe keine Geld für zwei Medizin-Hochschulen (Erfurt und Jena). Die medizinische Versorgung solle durch ein neu zu gründendes Krankenhaus übernommen werden.
Die Protestbewegung und der Hungerstreik der 12 Student_innen
Schon im Juni 1992 bildet sich eine breite Bürgerbewegung unter dem Slogan „Rettet die Medizinische Akademie“. Am 30. Oktober 1992 demonstrieren Jenaer Student_innen vor dem Thüringer Landtag, weil sie befürchten, dass die MHE durch den Abbau der Uni Jena erhalten würde. In Erfurt bildet sich ein „Studentenrat“ mit Zentrale im Student_innenwohnheim. Der Studentenrat organisiert von Anfang November bis Anfang Januar mehrere Demos, mit bis zu 20.000 Demonstrant_innen am 12. November 1992. Diese werden weithin als Fortsetzung der Erfurter Donnerstagsdemos von 1989 verstanden. Er organisiert zudem eine Auto-Demo bis 400 Autos inklusive aller Rettungsfahrzeuge der MHE.
Am 9. November gibt es eine Menschenkette um den Landtag. Am selben Tag beginnen 2 Studentinnen und 10 Studenten in der damaligen Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten, genau gegenüber vom Landtag, einen Hungerstreik. Am 12. November 1992 wird im Landtag die Schließung der MHE bis Ende 1993 beschlossen. Am selben Tag protestieren 20.000 Menschen auf dem Domplatz. Am 14. November erklärt der Rektor der MHE den Hungerstreik der Student_innen eigenmächtig für beendet. Sie erfahren davon aus der Presse. Desillusioniert beschließen sie am 15. November den tatsächlichen Abbruch des Hungerstreiks. Die von den Student_innen organisierten Donnerstagsdemos gehen mit bis zu 8000 Leuten bis Anfang 1993 weiter.
Die Umstrukturierung von Gesundheitsversorgung und Universitätswesen in Erfurt
Die MHE wird bis 1994 abgewickelt, dabei kommt es zu zahlreichen Entlassungen. 1994 wird stattdessen ein Krankenhaus mit Maximalversorgung eingerichtet, getragen zunächst zu 51% von der Stadt und zu 49% von der privaten GFK Krankenhausmanagement GmbH Teltow. 1997 übernehmen dann die Helios-Kliniken, das größte private Krankenhausunternehmen Europas, 51% der Anteile und 2002 den Rest. Wieder eine erfolgreiche Privatisierung.
Die Student_innen werden 1994 an der Uni Jena immatrikuliert, dürfen aber noch bis 1996 in Erfurt studieren. Die Einzelbibliotheken werden schon 1994 abgewickelt, die Zentralbibliothek an die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (Thulb) angegeliedert und Ende der 90er geschlossen. 1994 wird die Uni Erfurt mit sozialwissenschaftlichem Profil und ohne Medizin-Fakultät neugegründet. In der Konkurrenz der Universitätsmedizin zwischen Jena, Leipzig, Halle, Göttingen und Kassel hat Erfurt den kürzeren gezogen.
Zum Scheitern der Protestbewegung
Zum Zeitpunkt der Abwicklung zählte die MHE aufgrund der Schließung zahlreicher Betriebe bereits zu den größten Arbeitgeberinnen Erfurts. Die Proteste der Mitarbeiter_innen, Student_innen und Erfurter „Bürger_innen“ für den Erhalt der MHE widersetzten sich dem Abwertungsprozess der ostdeutschen Arbeiter_innen über Massenentlassungen und Privatisierungen. So eine klassenkämpferische und staatsfeindliche Sicht hatten die Beteiligten selbst freilich nicht. Der dominierende Diskurs der Tage war klar demokratisch-staatsbürgerlich und leistungsorientiert. Es ging den Leuten um die gute Ausbildung und die „Demokratie“. Eine weitergehende politische Perspektive (Klassenkampf, Selbstorganisation etc.) fehlte völlig, ebenso das Wissen um oder die Bereitschaft zum Repertoire der direkten Aktion, z.B. Uni-Besetzung, konfrontative Aktionen etc. Entsprechend gingen die Student_innen ein breites Bündnis mit Vertreter_innen von Stadt und Staat und Politiker_innen sogar noch aus der CDU ein, erschöpfte sich die Bewegung im Appell an die Herrschenden und fanden die Proteste keine Fortsetzung in irgendeiner Form. Wenigstens waren sie nicht so krass nationalistisch wie die Montagsdemos ab Dezember 1989.
Während der Proteste und des Hungerstreiks, die sich wie bereits erwähnt als Fortführung der Donnerstagsdemos von 1989 sahen, wurde die „demokratische Protestkultur“ von 1989 zunehmend eingeschränkt. Das Plaktieren in Straßenbahnen wird verboten, die Bullen werden strenger, der Repressionsdruck auf den Widerstand wächst, der Hungerstreik wird von Politiker_innen als „Terror“ gewertet und letzten Endes wird die Abwicklung durchgedrückt. Entsprechende groß war die Enttäuschung. In der Erklärung zum Abbruch des Hungerstreiks der Student_innen heißt es: „Wir setzen den Hungerstreik mit der bitteren Erkenntnis aus, daß eine Demokratie, um die 1989 gekämpft wurde, in Thüringen nicht existent ist“. Es wurde in den folgenden 20 Jahren nicht geschafft, an dieses Gefühl, verarscht worden zu sein, in eine staatsfeindliche und klassenkämpferische Richtung anzuknüpfen. Stattdessen sehen wir, wie es von der AfD und den Nazis in Erfurt in den letzten drei Jahren überaus erfolgreich für ihre „konservative Revoltution“ („Merkel muss weg! Lügenpresse! Widerstand!“) politisiert wird.
Kurzer Nachtrag
Schön und gut der Hungerstreik, aber hat doch alles mit Anarchismus nichts zu tun, könnte man sagen. Stimmt auch. Aber ich finde, als Anarchist_innen sollten wir uns nicht nur auf gewisse Ideologien und politische Identitäten beziehen und aus ihnen lernen, sondern auch auf die durchaus widersprüchlichen Kämpfe der Unterdrückten, von denen wir ja selbst auch ein Teil sind. Beides zusammengenommen könnte uns ein ganzes Stück weiterbringen.
Fußnoten
(1) In Leipzig fingen Ende September 1989 die Montagsdemos statt, in Erfurt dagegen fanden die Protestdemos ab Oktober 1989 donnerstags statt, um Leipzig keine Konkurrenz zu machen.