von Kevin
Mitte Mai haben die Lehrer_innen der radikalen mexikanischen Lehrer_innen-Gewerkschaft CNTE einen Streik gegen staatliche Bildungsreformen und mit weitergehenden Forderungen angefangen. Nach dem staatlichen Massaker beim Bullen-Angriff auf die Straßenblockade von Nochixtlán Mitte Juni hat sich die Streikbewegung weiter ausgebreitet und zu einem Aufstand verallgemeinert.
Der Beginn des Lehrer_innen-Streiks
Seit 2012 versucht der neue mexikanische Präsident Peña Nieto eine Bildungsreform durchzusetzen, die die weitere Standardisierung und Privatisierung des Bildungssystems sowie die Entmachtung der Lehrer_innen-Gewerkschaft SNTE vorsieht. Die Reform ist Teil eines Pakets an Umstrukturierungsmaßnahmen, das dem mexikanischen Staat von der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung und der Weltbank im Gegenzug für Kredite des Internationalen Währungsfonds auferlegt wurde. Die Lehrer_innengewerkschaft SNTE hat 1,3 Millionen Mitglieder. 200.000 davon gehören der CNTE an, einer radikalen und dissidenten Strömung innerhalb der SNTE.
Um dieses Reformvorhaben zu verhindern, befinden sich die 200.000 Lehrer_innen der radikalen CNTE seit dem 15. Mai im unbefristeten Streik. Sie fordern weiterhin: mehr Investitionen ins Bildungswesen, Freiheit für alle politischen Gefangenen, Gerechtigkeit für die 43 Student_innen, die im Herbst 2014 von Bullen und Drogenmafia hingerichtet worden waren sowie ein Ende aller neoliberalen Strukturreformen. Damit haben sie Forderungen anderer Widerstandsbewegungen der mexikanischen Gesellschaft aufgegriffen.
Rückblick: Die Kommune von Oaxaca
Um die Eskalation des Kampfes der Lehrer_innen zu verstehen, lohnt ein Blick zurück in die Vergangenheit. Im Mai 2006 beginnen die Lehrer_innen einen Streik gegen die Unterbezahlung des Lehrpersonals und die Unterfinanzierung des Bildungswesen im ländlichen Raum. Als am 14. Juni 3000 Bullen das Protestcamp der streikenden Lehrer_innen auf dem zentralen Platz von Oaxaca räumen wollen, solidarisieren sich die Leute aus dem Viertel und es kommt zu stundenlangen Straßenschlachten. Die Bullen werden vertrieben und die Volksversammlung der Völker von Oaxaca (APPO) wird gegründet. Anfang August besetzt die Aufstandsbewegung immer mehr Radio- und Fernsehstationen wie auch Regierungsgebäude. Im August intensiviert die Regierung ihren paramilitärischen Terror gegen die Bewegung, Barrikaden werden in und um die Stadt errichtet, die jegliche polizeilichen Operationen verunmöglichen. Auf dem Höhepunkt stehen in Oaxaca 3000 Barrikaden. Ende Oktober rückt die Bundespolizei in die Stadt ein und setzt der fünfmonatigen Selbstverwaltung im Aufstand ein Ende. Es dauert aber noch einen Monat, bis die Bullen die militanten Straßenkämpfe unterdrücken können. Insgesamt sterben wohl mindestens 26 Menschen während des Aufstands.
Der Aufstand von Oaxaca macht zwei Sachen deutlich. Wie schnell die gesellschaftlichen Widersprüche in den rebellischen südlichen Bundesstaaten von Mexiko, speziell in Oaxaca, zu aufständischen Situationen führen. Und wie der mexikanische Staat diese Widersprüche in Zusammenarbeit mit Paramilitärs militärisch verwaltet. Die Militarisierung der mexikanischen Gesellschaft ist seit 2006 mit dem sogenannten Drogenkrieg des mexikanischen Staats noch weiter vorangetrieben worden. Dieser richtet sich mehr gegen die eigene Zivilbevölkerung als gegen die Drogenkartelle. Die Aufrüstung der Armee und des polizeilichen Apparats, die polizeilich-militärische Besatzung ganzer Städte, die Einrichtung von Ausnahmezuständen, die extralegalen Hinrichtungen und Entführungen führen zur (para)militärischen Kontrolle und Disziplinierung der sozialen Bewegungen.
Erste Kampfaktionen und Repression
Vom bis 15. Mai bis Anfang Juni 2016 liefen einige starke Streikaktionen, die sich in Mexiko üblicherweise nicht auf innerbetriebliche Aktionen beschränken, sondern sich auf den öffentlichen Raum ausweiten und von weiteren Teilen der Gesellschaft unterstützt werden: Effektive Verhinderung des Schulbetriebs, Demos mit anfangs Zehntausenden, später Hunderttausenden von Leuten vor allem in Mexiko-Stadt, Chiapas und Oaxaca, ein Riesen-Protestcamp vorm Innenministerium in Mexiko-Stadt, Blockadeaktionen von Autobahnen und vom internationalen Flughafen. Dabei wurden die Lehrer_innen von den Eltern, Bäuer_innen und Student_innen unterstützt. Die Eltern blockierten die Schulen und ließen Streikbrecher-Lehrer_innen nicht rein, Student_innen und Bäuer_innen nahmen an den Massendemos teil, ebenso die Eltern der ermorderten 43 Student_innen.
Der Staat hat von Anfang an Gespräche verweigert, die Reformen für unverhandelbar erklärt und Tausende von Bullen gegen den Streik eingesetzt. Seit dem 19. Mai wurden die Demos mit Tränengas und Gummigeschossen sowohl vom Boden als auch von Helikoptern aus angegriffen. Das Protestcamp in Mexiko-Stadt musste mehrere Male dem Repressionsdruck weichen und umziehen, den streikenden Lehrer_innen wurde mit Kündigungen gedroht
Eskalation und das Massaker von Nochixtlán
Am 11. Juni griffen 1000 Bullen ein Protestcamp der Lehrer_innen in Oaxaca an, am nächsten Tag wurden Gewerkschaftsführer der CNTE verhaftet und später in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt. Daraufhin, ab dem 12. Juni, bauten die Lehrer_innen unterstützt von der Bevölkerung im ganzen Bundesstaat von Oaxaca Barrikaden und Straßenblockaden auf, die den Verkehr effektiv lahmlegten. 37 Hauptknotenpunkte wurden so blockiert. Der Effekt war ähnlich wie beim Paro Nacional in Kolumbien oder einem Generalstreik die Lahmlegung des gesamten Bundesstaats. Nicht einmal die Bullen kamen mehr voran, woraufhin sie anfingen, Polizeieinheiten über Flughäfen und Häfen in den Bundesstaat zu bringen.
Am 19. Juni ging die mexikanische Bundespolizei zum Angriff über. Bei der Räumung der Blockade in Nochixtlán kommt es zu vierstündigen Straßenschlachten. Nach Tränengas und Gummigeschossen setzen die Bullen scharfe Munition ein und richten ein Massaker an: 9 Menschen sterben am selben Tag, zwei Tags darauf im Krankenhaus, 45 werden verwundet, 22 sind verschwunden. Sie marschieren in die Stadt ein, besetzen Krankenhäuser, die Straßenschlachten gehen weiter, in der Stadt wird ein weiterer junger Mann erschossen und stirbt. Andernorts wird ein Journalist unter ungeklärten Umständen erschossen.
Offener Aufstand
Nach dem 19. Juni werden auch im Nachbarstaat Chiapas und anderen südlichen Staaten Brücken- und Strassenblockaden und riesige Protestcamps errichtet. Neben Massendemos besetzten Lehrer_innen und Eltern tageweise Mautstellen und lassen Autos kostenlos passieren. Die Regierung beginnt, die Internetverbindungen zu stören und Gas- und Benzinlieferungen zurückzuhalten, lässt weiterhin Blockaden von Bullen und Paramilitärs räumen, verhaftet Lehrer_innen, kriegt die Situation aber nicht unter Kontrolle. Generell stehen die Lehrer_innen schon lange nicht mehr alleine auf den Barrikaden, sondern werden massenhaft von der Bevölkerung unterstützt.
Verhandlungen
Nach den Ereignissen von Anfang Juli hat die Regierung sich auf Verhandlungen mit der CNTE eingelassen. Die CNTE bleibt jedoch skeptisch. Sie sieht in den Verhandlungen in erster Linie eine Strategie, zur Verschleppung und Zähmung des Widerstands. Nichtsdestotrotz haben bisher mehrere Dialoge stattgefunden. Gleichzeitig hat das Bildungsministerium Verhandlungen mit der größeren und moderaten Lehrer_innengewerkschaft SNTE angefangen. Die SNTE könnte einem faulen staatlichen Kompromis gesellschaftliche Legitimität verschaffen und so der Streik- und Widerstandsbewegung in den Rücken fallen.
Aufbau einer breiten Bewegung
Die Zapatist_innen haben den Lehrer_innenstreik von Beginn an unterstützt. Sie haben ihre Beteiligung an einem Bewegungsfestival abgesagt und das Essen, was sie währenddessen konsumiert hätten, den streikenden Lehrer_innen in Chiapas geschickt.
Am 9. Juli lud die Sektion 22 der CNTE in Oaxaca zu einem Zusammenkommen der Lehrer_innen und indigener Aktivist_innen ein, mit dem Ziel, ein gemeinsames „Programm der Völker gegen die Strukturreformen“ zu erarbeiten. Als Ergebnis des Treffens reiste eine „Karawane der indigenen Völker“ vom 17. bis 19. Juli nach Mexiko-Stadt. Auch in Chiapas bemühen sich Aktivist_innen der Lehrer_innen-Gewerkschaft, sich mit den Eltern und Aktivist_innen der verschiedenen Gemeinschaften zu treffen. Ebenfalls in Chiapas demonstrierten am 19. Juli 52 Kirchengemeinden, die der christlich-sozialrevolutionären Befreiungstheologie angehören, in Solidarität mit den Lehrer_innen.
Fazit bisher
Die Proteste und Blockaden gehen bis heute, Anfang August, weiter. Zusätzlich zu den 12 Toten vom 19. Juni stirbt ein weiterer Lehrer an seinen Wunden und wird der Anarchist und Journalist Salvador Olmos García von den Bullen hingerichtet. Damit sind bisher 14 Menschen während des Lehrer_innen-Streiks gestorben. Der Lehrer_innen-Streik zeigt gut, wie hoch das Konfrontations- und Eskalationsniveau im Klassenkampf in den kapitalistischen Peripherien und ehemaligen Kolonien ist. Dort haben sich militante Massenbewegungen entwickelt, mit denen, mit deren Organisierungsmodellen, Kampferfahrungen und Ideentraditionen auseinanderzusetzen sich lohnt.