Anarchie in Jena

von Kevin

In den letzten drei-vier Jahren hat sich in puncto anarchistische Bewegung in Jena einiges getan hat. Viele neue Gruppen haben sich gegründet, neue Projekte wurden angegangen, wir treten als Anarchist_innen selbstbewusster in Erscheinung und beteiligen uns an einigen sozialen Kämpfen. Anlässlich des beginnenden Wintersemesters und einer neuen Erstie-Schwemme möchte ich den Teil der Anarcho-Szene in Jena, der öffentlich in Erscheinung tritt, kurz vorstellen und zwei, wie ich finde, wichtige Debatten ansprechen.

Die Anarcho-Szene

FAU Erfurt/Jena / www.fau.org/erfurt-jena: Die anarchistische Basisgewerk­schaft der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union in Thüringen hat sich 2007 in Südthüringen formiert, ist dann um 2012 quasi nach Erfurt und Jena umgezogen. 2013 haben Mitglieder der FAU in Jena zum ersten Mal eigene Arbeitskämpfe angefangen – den klei­nen Hiwi-Streik am Soziologie-Institut und individuelle Lohnrückfor­de­rung­en. Seitdem ist die FAU-Gruppe gewachsen, aktiver geworden, hat eine wöchent­liche Sprechstunde und seit neuestem zwei offene AGs zu Minijobs und Arbeitsverhältnissen an der Uni.

Wolja / wolja.noblogs.org: Am 6. De­zem­ber 2013 wurde das Haus in der Neugasse 17 besetzt, um dort ein offenes Infocafé namens Wolja einzu­rich­ten. Am 1. Juli 2014 wurde das Haus in der Carl-Zeiss-Straße 11 besetzt. Beide Besetzungen wurden mit Texten auf dem Wolja-Blog begleitet und jeweils am nächsten Tag geräumt. Es gab dann noch verschiedene Folge­treffen, die ganze Repressionsarbeit und immer mal wieder Textbeiträge von Wolja. Wolja hat es geschafft, noch vor dem Hype um die „Social Centers for All“ (SC4A) Hausbesetzungen, direkte Aktion und praktische Eigentumskritik wieder zum Thema zu machen und als Praxis neu zu etablieren.

Anarchistische Gruppe: Der anarchis­tische Lesekreis ist 2015 irgendwann eingeschlafen. Dafür gibt es seit Herbst 2015 eine anarchistische Gruppe. Sie ist bisher mit den Anarchistischen Tagen vom Mai 2016 in Erscheinung getreten. Kontakt unter a-day@riseup.net.

Anarcho Infoblatt Jena: Im November 2015 ist die erste Ausgabe des Anarcho Infoblatts Jena erschienen. Seitdem werden aller zwei Monate 300 Kopien rausgebracht und verteilt. Das Infoblatt ist das (bisher) einzige Szene-Heft Jenas, versucht bei klarer anarchis­ti­scher Ausrichtung verschiedene soziale und Klassenkämpfe in unserer Stadt zu thematisieren und so ein praktisches Bewegungswissen zu produzieren und zu verbreiten.

ABC Jena / abcj.blackblogs.org: Das Anarchistische Schwarze Kreuz Jena hat sich im Juni 2016 gebildet. Seitdem hat es ein paar Soli-Aufrufe rausgebracht, ein Soli-Brunch organisiert und einen längeren Text zur Soli-Woche mit inhaftierten Anarchist_innen veröffent­licht.

Autonome Bewegung statt staat­licher Einbindung und Einheitsfront
Die radikale Bewegung in Deutschland basiert auf der „Einheit der Linken“. Innerhalb der Szene hängen sowohl freiheitliche und staatsfeindliche Grup­pen wie Anarchist_innen und autonome Antifas als auch autoritäre und Staats­linke wie z.B. rote Antiimp-Kommu­nist_­innen, Parteijugenden etc. zusammen. Wie in Thüringen seit Beginn der Links­re­gier­ung 2014 überdeutlich führt das zur Einbindung von Leuten in die Staats­ap­para­te (Parteien, bürokratische Gewerk­schaf­ten, NGOs und Staats­antifa) und damit zur Schwächung und Zähmung der Bewegung, zur Präsenz von auto­ri­tären Ideen und Vorstellungen innerhalb der Szene (DDR- und Sowjet-Nostalgie, Arbeiterstaats-Phantasien, Unter­­stüt­zung nationaler Befreiungs­be­we­g­ung­en), hält Gruppen davon ab, die Konfrontation mit dem linksregierten Staat zu suchen und ermöglicht es linken Parteien, sich als bewegungsnah und kämpferisch zu profilieren und Aktivist_innen und Funktionäre aus den sozialen Kämpfen zu rekrutieren. Diese Einheit ist unter anderem in Bündnissen und Organisationen wie Blockupy, der Roten Hilfe, dem Thüringer Antifa-Ratschlag, Antifa-Bündnissen usw. institutionalisert.

Ich würde sagen, als Anarchist_innen versuchen wir auf dreifache Weise, dagegen vorzugehen. (1) Wir nehmen kein Blatt vor den Mund und ziehen die Regierungslinken und ihr Vorfeld zur Verantwortung. Im Mai 2016 wurde z.B. das Jenaer Büro der Linkspartei besetzt. (2) Wir versuchen, autonome und selbst­verwaltete Bewegungsstrukturen auf­zubauen, z.B. die FAU als Gewerk­schaft, das ABC als Antirepressions-Orga­nisation, das Info-Blatt als Bewe­gungs­öffentlichkeit. (3) Wir betei­li­gen uns an vielfältigen und wider­sprüch­li­chen sozialen Kämpfen, z.B. im Rahmen der Gefangenengewerkschaft, in femini­sti­schen Gruppen, in der Ant­irepression, in der Antira-Bewegung usw. Mit dieser Strategie stehen wir innerhalb der Szene leider oft ziemlich alleine da. Die meisten Genoss_innen verbleiben in ihren Einheitsfront-Bünd­nis­sen.

Die Herausforderung, Kontinuität herzustellen
Eines der größten Probleme, mit dem sich die Szene insgesamt, aber auch wir rumschlagen, ist die krasse Fluktuation in Jena. Das hat zwei Gründe. Erstens sind ein Viertel der Stadtbevölkerung, 25.000 von 100.000 Einwohnern, Student_innen. Ein Großteil der Szene stammt aus diesem studentischen Mil­lieu. Seit der Umstellung auf das Bachelor-Master-System bleiben die Stu­dis oft bloß für drei Jahre in der Stadt. Jeden Oktober geben sich so die Gene­ra­tionen die Klinke in die Hand. Zweitens ist Jena aus Thüringer Per­spek­tive sicher eine Szene-Metropole, aber im ostdeutschen Kontext dann doch bloß eine Kleinstadt. Viele Leute zieht es in die größeren Städte, nach Dres­den, vor allem aber nach Leipzig und Berlin. Gruppen brechen so regelmäßig in sich zusammen oder schlafen ein.

Mit dieser Situation, finde ich, können wir dreigleisig umgehen. Erstens, indem wir unsere Gruppen für Neue öffnen. Das meint nicht nur, dass Leute prob­lem­los zu Plena kommen können, son­dern dass wir uns auch Zeit nehmen, uns um sie zu kümmern, ihnen Sachen erklären und uns auf Diskussionen einlassen. Die GG/BO-Soligruppe hat beispielsweise ein monatliches Briefe­schreiben, die FAU eine wöchentliche Sprechstunde, Pekari ein wöchentliches Info-Café, über das AIBJ werden Infos verbreitet und Debatten zugänglich gemacht usw. Zweitens, indem wir die Älteren bei Stange halten. Die Plena der FAU z.B. finden einmel im Monat am Sonntag statt, das ABC hat mal ein Soli-Brunch (und keine Soli-Party bis in die Puppen) organisiert. So wird es Leuten, die arbeiten gehen oder Kinder haben, möglich gemacht, weiterhin teil­zu­neh­men. Und natürlich sollten Themen, die Leute jenseits der 30 einfach beschäftigen, wie Arbeit, Elternschaft und Mietstress, mehr besprochen und angegangen werden. Drittens, indem wir uns regional ver­net­zen und mehr mit den Nachbarstädten zusammen­ar­bei­ten, um so Hin- und Her­züge besser stemmen zu können. In Eisenberg und Gera gibt es z.B. wöchent­liche Voküs, in der letzten Zeit haben in Leipzig, Dresden und Weimar anarchistische Veran­stal­tungs­reihen bzw. eine Buch­messe statt­ge­funden. Alles Gelegen­hei­ten, sich bes­ser kennen und vertrauen zu lernen.