Der anarchistische Widerstand gegen die Lukaschenko-Diktatur

von anonym

Ich war neulich in Belarus/Weiß­russ­land und habe mich dort mit Leuten aus der anar­chistischen Bewegung getrof­fen. Weißrussland ist ein armes Land und eine Diktatur, die „letzte Diktatur Europas“, wie es oft heißt. Entsprechend werden unsere Leute dort in den Untergrund ge­zwun­gen. Nichtsdestotrotz orga­ni­sie­ren sie sich und den Widerstand gegen den Staat, seinen Diktator und die Ver­hält­nisse allgemein. Davon will ich in diesem Text berichten.

Wirtschaftliche Verhältnisse
Weißrussland befindet sich in der ost­europäischen kapitalistischen Pe­ri­pherie und ist wirtschaftlich wie po­litisch vor allem von Russland und teils vom In­ter­­nationalen Wäh­rungs­fonds (IWF) ab­hängig. Ein gro­ßer Teil der Indus­trie und Land­wirt­schaft befin­det sich wie noch zu Kommunis­mus-Zei­ten in staat­li­chem Besitz. Seit einigen Jahren jedoch laufen auf Druck Russlands und des IWF hin Privatisierungs­pro­gram­­me. Die Löhne sind ziemlich mies. Ei­ne Bekannte arbeitet im Kranken­haus und kommt auf 150€ im Mo­nat. Ein anderer ist Lehrer und be­kommt 250€ im Monat. Arbeits­lo­sen­­geld gibt es nicht wirklich, das sind 15-20$ pro Monat. Auf der ande­ren Seite gibt es auch eine krasse Ungleichheit. Wer in der IT-Industrie Arbeit findet, kann bis zu 3000 Dollar im Monat verdienen und hat seine Schäfchen ins Trockene gebracht.

In diesen Verhältnissen steckt na­tür­lich auch die anarchistische Sze­ne drin. Einige haben ent­spre­chend der Szene den Rücken ge­kehrt und sind zu den Grünen gegangen, haben angefangen, im IT-Bereich zu arbeiten und sind nach Moskau, Litauen oder in den Wes­ten ausgewandert. Sie sind, wie ein Freund bitter meinte, „an den Komfort“ verloren geghangen.

Die Diktatur, ihre sozialistische Fassade und die dauerhafte Repression
Seit 1994 befindet sich Präsident bzw. Diktator Lukaschenko an der Macht. Die politische Ordnung ist extrem repressiv. Das fängt schon mit der Einreise ein. Man wird an der Grenze krass kontrolliert und gefilzt, muss einige Dokumente ausfüllen und sich innerhalb von einer Woche in Minsk bei einer Art Ausländerbehörde anmelden. Bei den Grenzkontrollen wird auch nach politisch subversivem Material ge­sucht. Vor einiger Zeit erst haben die Grenzbullen bei jemandem im Auto einen Haufen radikaler Litera­tur – Bücher und Hefte – gefunden und eingezogen.

Kommt man dann in Minsk an, fällt einem sofort auf, dass der Sozialis­mus hier im Gegensatz zu den meisten anderen Ostblockstaaten mit ihren „bunten Revolutionen“ überlebt hat. Zumindest seine Un­ter­drückungseinrichtungen und Sym­bolik. Mitten im Stadtzentrum befindet sich die KGB-Zentrale mit an­ge­schlossenem KGB-Knast. Gleich gegenüber kann man die Statue von Dserschinski bewun­dern, des Gründers der Tscheka, des ersten bolschewistischen Ge­heim­dienstes, der von 1917 bis 1922 Zehntausende von Menschen verfolgte und die ersten Kon­zen­tra­tions­lager einrichte. In den U-Bah­nen prangen Hammer und Sichel, auf dem zentralen Platz und an­ders­wo stehen Lenin-Statuen. D.h. die ganze rote Sozialismus-Scheiße, die zumindest bei uns zum Glück 1989 abgeschafft wurde.

Die anarchistische Szene ist einem ständigen Verfolgungsdruck aus­ge­setzt. Zu offenen Veranstaltungen kommen immer wieder Bullen (in Weiß­russland in guter Sowjet-Tradition „Militsia“ genannt) und KGB-Bullen. Sie rufen auch gerne mal auf dem Privathandy an, um zu zeigen, dass sie die Leute im Blick haben. Aktionen kriegen keine Genehmigung und müssen unan­ge­mel­det stattfinden. Folglich können sie nicht offen beworben werden und werden meistens innerhalb von 10 Minuten von den Bullen ge­sprengt. Dabei ist es mehrfach pas­siert, dass die Demonstrant_innen vor Ort zusammengeschlagen und später vom Gericht zu zehntägigen Arreststrafen verurteilt wurden. Als einmal Leute aus Deutschland da­bei waren, wurden sie ebenfalls ver­prü­gelt und dann aus dem Land abgeschoben.

Hinzu kommt die staatliche Zensur. Briefe, gerade Korrespondenz mit dem Ausland, werden teilweise ge­öff­net und gelesen. Seit einigen Jahren werden Internetseiten bloc­kiert und verboten. Das weiß­rus­si­sche Indymedia wurde 2006 wäh­rend der „Wahlen“ über mehrere Wochen hingweg blockiert. Die anarchistische Nachrichten-Seite pramen.io wurde erst diesen Okto­ber nach ei­nem Gerichtsprozess of­fi­ziell verboten und ist seitdem abge­schal­tet. Ein beteiligter Ge­nos­se hat in Bezug darauf die Be­fürch­­tung geäußert, dass in Weiß­russ­land nun „ein chinesischer Eiserner Vorhang aufgebaut wird“, d.h. die staatliche Zensur und Kontrolle des Inter­nets und damit des Informa­tions­zugangs der Bevölkerung wei­ter ausgeweitet wird.

All das führt dazu, dass sich die anar­chistische Bewegung in Weiß­russ­land im Untergrund organi­sie­ren muss. Entsprechend sind dort die Praktiken und Techniken von Untergrund-Arbeit, die bei uns am ehesten bei militant-autonomen oder militant-antifaschistischen Grup­­pen lebendig sind, für alle eine Überlebensfrage.

2010/2011: Repression gegen Anarchisten und Nieder­schla­gung von Protesten
Im August/September 2010 kam es zum bisher größten Repressions­schlag gegen die anarchistische Bewegung. Das war eine staatliche Reaktion auf mehrere militante Ak­tionen und Anschläge gegen die Diktatur in den vorhergehenden Monaten. Mehrere Anarchisten wurden verhaftet und drei von ihnen wegen militanter Aktionen zu mehreren Jahren Strafkolonie verur­teilt: Aliaksandr Frantskievich, verurteilt zu drei Jahren Straf­kolonie, entlassen im September 2013. Ihar Alinevich, verurteilt zu 8 Jahren Strafkolonie, im August 2015 entlassen. Mikalaj Dziadok, verur­teilt zu 4,5 Jahren Strafkolonie, im August 2015 entlassen. Ihar Aline­vich hat während seiner Haftzeit das Buch „Auf dem Weg nach Mag­a­dan“ geschrieben, in dem er über seine Flucht nach Moskau, seine Ver­schlep­pung durch den Geheim­dienst, die Inhaftierung und Folter im KGB-Knast von Minsk und die Situation in Weißrussland berichtet. Das ABC Dresden hat das Buch ins Deutsche übersetzt, in Jena wird es vom ABC Jena verteilt.

Wenn der Staat so hart gegen eine kleine Untergrund-Szene vorgeht, wie würde er wohl auf breitere Pro­tes­te reagieren? Im Juni/Juli 2011 kam es zu solchen Protesten, bei denen bis zu einige Tausend Leute nach den inszenierten Wahlen vom Dezember 2010 gegen Lukaschen­ko auf die Straße gingen. Die Bul­len gingen sofort gegen die Demos vor, verhafteten Dutzende Leute. Jegliche Demonstrationen wurden verbo­ten. Das war die größte Mobilisierung gegen das Luka­schenko-Regime der letzten Jahre.

Anarchistische Bewegungsprojekte
Trotz alledem bringen die Anar­chist_­innen in Weißrussland einiges zustande. Die im Westen bekann­teste Gruppe ist das Anarchistische Schwarze Kreuz (ABC) Belarus. Es wurde 2009 gegründet, als zuneh­men­de staatliche Repression be­reits abzusehen war, betreute die Gefangenen vom 2010/11 und küm­mert sich bis heute um Antifa- und anarchistische Häft­linge. Wei­ter­hin gibt es eine Bewegungs­bibliothek, die „Auf­stän­­dische Bib­lio­thek“. Sie wurde 2011 gegrün­det, wurde erst in einer Kunst­gallerie und dann im Büro der Grü­nen Partei unter­ge­bracht. Gele­gent­lich übersetzt die Bibliotheks­gruppe Texte aus dem Ausland und veröffentlicht sie auf der Seite dumka.be. Die anar­chistische Info­seite pramen.io wurde bereits angesprochen. Seit 2013 wird unter großem Aufwand versucht, eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Seit 2014 wird eine Gegenuni­ver­si­tät organisiert, d.h. es finden immer wieder – gele­gent­lich offe­ne, aber zumeist ge­hei­me – Selbst­bildungs­veran­stal­tungen statt. Die „Food not Bombs“-Gruppe kocht seit 11 Jah­ren Essen und verteilt es kostenlos an Leute. Darüber wer­den nicht nur Obdachlose und Arme unterstützt, sondern wird auch ein dissidenter sozialer Raum geschaffen. Eine weitere Gruppe, an der sich Anarchistinnen betei­li­gen, ist die feministische Gruppe. Es gab auch mal eine Anti-AKW-Gruppe, die sich gegen den Bau neuer Atom­kraft­twerke in Weiß­russ­land engagiert hat, aber aufgrund der Repression aufgelöst werden musste.

Manche der erwähnten Gruppen befinden sich vollkommen im Unter­grund und deren personelle Zusammensetzung ist sogar den eigenen Leuten unbekannt wie z.B. das ABC. Andere Gruppen können gelegentlich offener einladen und Anschlusspunkte für unzufriedene Menschen bilden wie z.B die Gegen­universität, die aufstän­di­sche Bibliothek oder die „Food not Bombs“-Gruppe.

Szene-Konflikte und -debatten
Wie sollte es auch nicht in Weiß­russ­land Szenekonflikte geben? Wobei die zwei Auseinan­der­set­zungen, die wir mitbekommen haben, eher weniger interne Debatten sind als Ab­grenzungs­kon­flikte mit Gruppierungen, die sich das Label „anarchistisch“ an­maßen. Die erste derartige Grup­pierung sind die „Nationalen- oder Ethno-Anarchist_innen“. Das sind ähn­lich wie die „autonomen Natio­na­listen“ in der BRD Faschos und Natio­nalist_innen, die einige anar­chistische Ideen und Symbole ganz nett fanden und sie in ihre natio­na­listischen Ideologie integriert ha­ben. Der zweite Konflikt besteht mit einem Grüppchen, der „revo­lu­tionären Aktion“, das aus dem anar­cho-individualistischen Spek­trum entstanden ist und seit ca. 3 Jahren offen antifeministische und homo­phobe Positionen (Stichworte „Gayropa“ und „Homosozialisten“) vertritt. Beide Strömungen, die „Natio­nalen Anarchist_innen“ wie der antifeministische Flügel, sind leider auch in anderen osteu­ro­pä­ischen Ländern, in Russland und der Ukraine, in den letzten 15 Jah­ren zu einer dauerhaften Plage geworden.

Eine wichtige Debatte ist, mit wel­chem Ziel man sich neben Libe­ra­len und Nationalist_innen in den an­ti-diktatorialen Widerstand ein­bringt. Die Anarchist_innen machen sich da keine Illusionen. Es war ja bereits in mehreren osteuro­pä­isch­en Staaten zu beobachten, dass der Übergang von autoritären/dik­ta­torischen postsozialistischen Re­gi­men hin zu demokratischen Regi­men, oft über die sogenannten „Bun­ten Revolutionen“, vielleicht eine Liberalisierung staatlicher Herrschaft, aber bei weitem keine Befreiung mit sich brachte. Den­noch halten sie das Ende der Luka­schen­ko-Diktatur und so einen Ü­ber­gang für wünschenswert, weil sich so die Bedingungen für Orga­ni­­sierung und Widerstand ver­bes­sern würden. Sie könnten offener agieren, einfacher Proteste und Ak­tionen organisieren, sich in soziale und Klassenkämpfe einbringen, wo­durch mehr Leute den Anschluss an die Bewegung finden könnten.

Was können wir tun?
Trotz aller staatlichen Unter­drüc­kung, wirtschaftlichen Schwierig­kei­ten und Szene-Konflikte versucht die anarchistische Bewegung in Weiß­russland, den Widerstand ge­gen die Diktatur und gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse auf­recht zu erhalten. Wir, die wir in einer staatlichen Demokratie und relativ wohlhabenden Gesellschaft leben, haben vergleichsweise dazu weitaus mehr politischen und öko­no­mischen Spielraum. Es wäre toll, wenn sich mehr Leute hier ange­spro­chen fühlen, diesen Spielraum auszunutzen und die Bewegung in Weißrussland zu unterstützen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Z.B. kann man, so wie wir das ge­ra­de machen, Informationen über die Zustände und den Widerstand in Weißrussland verbreiten. Es ist immer wichtig, das ABC Belarus finanziell zu unterstützen, da die Gefangenenhilfe und Antirep­res­sions­arbeit sehr kostspielig sind. Das geht über Spenden oder indem ihr das Buch „Auf dem Weg nach Magadan“ kauft. In Bezug darauf kann das ABC Jena angesprochen werden. Man kann ebenfalls an das Emma-Goldman-Übersetzungs­pro­jekt der russischsprachigen anar­chis­tischen Verlagskooperative „Radikale Kritik und Theorie“ (siehe Infoblatt #5) spenden. Deren Bücher werden auch in Weißruss­land, wenn auch nur von Hand zu Hand weitergegeben, stehen in der „Auf­ständischen Bibliothek“ und werden dort diskutiert.

Links
pramen.io (Nachrichten)
abc-belarus.org (Antirepression)
dumka.be (Aufständische Bibliothek)
fnbminsk.noblogs.org (Food not Bombs)