Selbstorganisierung und Hausbesetzung

ein Beitrag aus Sicht von zwei Menschen, die die Besetzung mit geplant haben

Wolja hat den dritten Anlauf gewagt. Am 17. Oktober 2016 wurde die Carl Zeiss Straße 10 besetzt. Anders als bei den bei­­den vergangenen Besetzungen unter dem Namen Wolja im Dezember 2013 und Juli 2014, gab es dieses Mal keine vermummten Besetzer*innen die, im Inneren des Hauses verbarrikadiert, die Verhandlungsfragen und Verteidi­gungs­stra­tegien bestimmten. All diese Fragen sollten selbstorganisiert vor Ort geklärt werden.

Selbstorganisierung als Art und Weise uns zu organisieren und Entscheidungen zu treffen war und ist uns immer noch wichtig. Wir wollen selbstbestimmt und ohne Vorgaben von Chef*innen etc. das selbstverwaltete Zentrum, welches wir durch die Besetzung erreichen wollten, gestalten. Dafür halten wir es für not­wen­dig, gemeinsam zu diskutieren und kämpfen zu lernen. Zudem können durch offene Selbstorganisierung viele Men­schen von Beginn an in den Prozess des Kampfes um ein Zentrum einbezogen wer­den, dieses mitgestalten und es auch zu „ihrer Sache“ machen. Dies ist not­wen­dig, da das selbstverwaltete Zen­trum von vielen Menschen getragen und gestaltet werden soll und nicht von einzelnen Aktivist*innen, die sich dabei völlig überarbeiten. Wir wollten mehr Menschen werden, während und durch die Besetzung.

In den Stunden und Tagen danach wurde in Diskussionen und Auswertungen deut­lich, dass viele Menschen mit dem Er­geb­nis, dem Verlauf der Besetzung und den (nicht geführten) Verhandlungen un­zu­frieden sind. Auch wir hätten uns ge­wünscht auf die Verhandlungen einzugehen.

„Alle entscheiden mit und kommen zu einer unbefriedigenden Ents­cheidung“

Dieser Eindruck entstand und wir fragen uns wie das sein kann, wenn doch alle Menschen gleichberechtigt am Prozess und den Entscheidungen teilhaben konn­­ten? Wie lief die Selbst­orga­ni­sier­ung, was hat geklappt, was nicht? Was kön­nen wir*1, als diffuse Szene für das näch­ste Mal davon lernen? Sind Haus­beset­zungen überhaupt der richtige Rahmen für Selbstorganisierung?

Struktur der Selbstorganisierung vor Ort

Wir bereiteten mit vertrauten Menschen nur die nötigste Infrastruktur vor. Auch wenn wir selbst im Vorfeld über mög­liche Strategien und Verhandlungen spra­chen, gab es keine Vorgaben oder Hinweise darauf, wie mit dem Haus und Verhandlungen vor Ort umgegangen werden sollte. Lediglich eine Verhand­lungs­crew startete eine erste Kontakt­auf­nahme mit dem Eigentümer.

Alles Weitere sollte das Plenum selbst­or­ga­nisiert vor Ort entscheiden. Alle an der Aktion beteiligten, egal ob Teil der Orga, Teil der Infrastruktur oder Unter­stüt­zer*innen, die erst im Laufe des Nachmittags dazustießen, sollten gleich­berechtigt am Aushand­lungs­pro­zess Teil haben können.

Kernpunkte der Selbstorganisierung waren das Delegiertenplenum mit Rücksprachen zu den Bezugsgruppen und der Versuch, Konsens­ent­schei­dungen aufgrund der Stimmen der Delegierten zu treffen. Dabei wurde mit Runden gearbeitet, wo alle ihre Bezugs­gruppenentscheidung mitteilten und die Moderation versuchte, all diese Stim­men zusammenzufassen. Anschließend wur­den Vorschläge für das weitere Vor­gehen erarbeitet und nach Zustimmung und Widerständen gefragt. Gab es Wi­der­stände wurde die Diskussion eröffnet und die Delegierten gingen mit neuen Infos oder Argumenten wieder in Bezugs­gruppen, um am Ende eine Entscheidung treffen zu können.

In den ersten Stunden waren viele Men­schen in Bezugsgruppen organisiert, haben in diesen diskutiert und Ent­schei­dungen getroffen. Im Plenum herrschte eine große Offenheit und jederzeit konn­ten sich Menschen einbringen. Zudem nahmen auch Menschen und Bezugs­grup­pen abseits des linken sichtbaren „Szene­wustes“ an den Plena Teil. Es wurde deut­lich, dass das Thema Besetzung und Häuser­kampf viele Menschen erreichen kann und das es möglich sein kann, dass sich von Beginn an alle Anwesenden mit der Aktion identifizieren und einbringen. Wa­rum so viele Konjunktive? Naja, so ganz hat es dann halt doch nicht ge­klappt.

Inhalt und Ablauf der Plena

Ein oft kritisierter Punkt war, dass das Ple­num mit zu vielen Dingen vollgepackt war. Die Bezugsgruppen hatten teilweise nur 20 Minuten Zeit um mehrere Ent­schei­dungen zu treffen. Unter dem Druck, diese schnell treffen zu müssen, war es schwer auf neue Dinge strategisch und überlegt reagieren zu können. Dabei ha­ben wir auch dieses Mal wieder gelernt – wir haben Zeit! Es dauert einfach wirklich ganz schön lange, bis die Situation eska­liert und die Polizei räumt – vor allem da wir* ja unter dem Versammlungsschutz der angemeldeten Kundgebung standen. Und zudem haben wir* uns den Zeitdruck auch selbst gemacht indem wir* dem Eigen­tümer eine Zeit nannten, wann wir *eine Entscheidung treffen. Selbst­orga­ni­sierung braucht Zeit – und die sollten wir* uns beim nächsten Mal auch selbst­be­wusst nehmen.

Zudem fielen inhaltliche Auseinan­der­set­zungen im Plenum runter, weil es nur noch darum ging schnell zu klären, ob mensch nun das Haus besetzen möchte oder nicht. Es gab kein gemeinsames in­halt­liches Ziel und keine gemeinsam er­ar­beitete Strategie, welche eine Grund­lage für Entscheidungen und gemein­sa­mes Vorgehen hätten sein können. Hier ha­ben wir als Organisator*innen es versäumt, Raum für eine inhaltliche Auseinandersetzung zu schaffen. Das Ple­num war von Beginn an so strukturiert, dass es darum ging Entscheidungen zu treffen und nicht darum, sich ein gemein­sames Bild von Strategien und Zielen zu machen, was jedoch eine Notwendigkeit ist, wenn wir* gemeinsam Ent­schei­dungen treffen wollen.

Wer wird gehört? Wie wird ent­schie­den?

Neben der fehlenden inhaltlichen Aus­ei­nan­dersetzung und dem Zeitfaktor, der eine Rolle bei der Entscheidungsfindung gespielt hat, war jedoch auch die Unklar­heit, wie mit unterschiedlichen Positionen umgegangen werden soll, ein Hindernis für eine gelungene Selbstorganisierung und überlegte Entscheidungen.
Teilweise konnten nicht einmal die De­le­gier­ten für ihre Gruppen sprechen, da die unterschiedlichen Positionen inner­halb dieser in der kurzen Zeit nicht aus­gelotet werden konnten. So wurden wohl auch Entscheidungen aus „Erleich­ter­ung“ bzw. Bequemlichkeit getroffen. Men­schen, wurden aufgrund einer bestimmten Position ( Bsp. als Teil der Verhandlungscrew) Kompetenzen und Wissen zugesprochen. Wenn aus dieser Position der Vorschlag gemacht wird, nicht mit dem Eigentümer zu reden, erscheint das doch für alle als gute Lö­sung. Niemensch muss sich mehr mit ihm auseinandersetzen, was auf jeden Fall anstrengend gewesen wäre und wir* sind aus dem Schneider.

Aufatmen. Entscheidung getroffen, wir* machen einfach unser Ding und ent­schei­den uns für den im Moment (!) ein­fach­sten Weg. Und apropos Menschen und das zuschreiben bestimmter Kompe­ten­zen und Wissen – auch wenn es vielleicht der Wunsch ist bei einem Plenum alle Stimmen gleichermaßen zu wert­schätzen und alle am Entschei­dungs­prozess zu beteiligen, gibt es dennoch Stimmen, die mehr Gewicht haben. Dies geschieht nicht nur auf­grund bestimmter Positionen oder besserer Argumente, sondern ebenso aufgrund ihres zugesprochenen (oder tatsächlichen) „standings“ in der Szene, ihrer lauten und entschlossenen Stimme und ihrer dominanten Raumnahme.

Selbstorganisierung und die Idee, dass sich alle gleichberechtigt einbringen können – schön und gut. Aber im Mo­ment ist es einfach noch so, dass die Stimmen von weißen dominant auf­tre­ten­den Typen mehr Gewicht haben und als richtiger gelesen werden als andere. Und wenn wir* dies nicht in unserer Selbst­organiserung berücksichtigen und dann so tun, als könnten alle gleich­be­rech­tigt mitsprechen, reproduzieren wir* nur dieselben Muster, gegen die wir* eigent­lich vorgehen wollen. Es braucht also Strukturen und Instrumente, die eine wirklich gleiche Hörbarkeit aller Stimmen gewährleisten.

Alleingänge, Vertrauen und Verant­wortung

Und auch hier lässt sich ein guter Über­gang zu meinem nächsten Punkt finden – welche Stimmen haben wie viel Gewicht und welche Menschen „trauen“ sich, ins Plenum zu preschen, bereits getroffene Entscheidungen über Bord zu werfen und ihr eigenes Ding durchzuziehen, wo­nach sich dann die ganze Basisorga­ni­sier­ung richtet? Was ist das richtige Maß von Basisorganisierung und konsensuale Entscheidungen und der Autonomie Ein­zel­ner?! Bei dieser Besetzung war das Plenum der Ort um Entscheidungen zu treffen. Wenn diese jedoch, wie dieses Mal geschehen, durch Einzelgänge über Bord geworfen werden, bleibt die Sinn­haf­tigkeit von Plena durchaus frag­wür­dig. Da ist es auch schnell hinüber mit dem Vertrauen und der gemeinsamen Verantwortung für den Prozess. So ha­ben zum Beispiel Menschen, die sich klar für eine Besetzung des Hauses aus­spra­chen und diese auch durchführen wollten den Ort ohne Absprache ver­las­sen. Und auch der Wechsel der Nacht­schicht klappte nicht, weil Menschen am frü­hen Morgen einfach nicht auftauch­ten. Doch genau dieses Vertrauen in­ei­nander und die Übernahme von Verant­wor­tung braucht es, wenn wir* uns wei­ter selbst organisieren wollen. Wenn wir* lernen wollen gemeinsame Entschei­dung­en zu treffen und diese auch ge­mein­sam zu tragen, brauchen wir* die Sicher­heit uns auch aufeinander ver­las­sen zu können, vor allem auch in un­si­cher­en und angespannten Momenten.

Wir* sollten lernen uns selbst ernst zu nehmen und verantwortungsvoll zu han­deln – und das heißt in diesem Fall nicht nur Entscheidungen zu treffen, sondern die Konsequenzen auch zu tragen bzw. transparent zu machen bis zu welchem (Zeit-) punkt ich sie mittrage.

Selbstorganisierung muss immer wieder verteidigt werden. In diesem Fall sowohl gegen Eigentümer*innen, die sich schnel­le Entscheidungen wünschen, als auch gegen unsere eigene Sozialisation. Deswegen wünschen wir uns, dass sich alle am Prozess beteiligten auch selbst fragen, wie dieser für sie abgelaufen ist und welche Rolle sie und ihre Bezugs­gruppe dabei einnahmen.

Fazit und Fragen, die bleiben…

Auf den letzten Seiten haben wir ver­sucht darzulegen warum wir uns für die Selbstorganisierung vor Ort entschieden haben und wie sie gelaufen ist. Wir ha­ben versucht zu verstehen wie Ent­schei­dungen getroffen wurden und wir ha­ben Kritik geäußert. Deutlich wurde, dass wir* es nicht geschafft haben selbst­organisiert überlegte und strate­gi­sche Entscheidungen zu treffen, an denen alle partizipieren konnten und die auf ein Haus hinausliefen.

Es bleiben viele Fragen offen: Inwiefern ist eine Selbstorganisierung im Rahmen einer Besetzung sinnvoll? Wer soll an Entscheidungen teilhaben können? Wie viel vorgegebene Struktur braucht es? Wie viele Aufgaben und Rollen müssen von Beginn an klar verteilt werden? Was ist das richtige Maß zwischen einer klan­des­tinen Gruppe, die sich verbar­ri­ka­diert und von dort Entscheidungen trifft und einem total offenen Konzept, wo alle strategischen und inhaltlichen Fragen in die Gruppe gegeben werden? Und wenn es nur darum geht, ein Haus zu besetzen um unsere Ver­hand­lungs­po­sition zu stärken, braucht es dann überhaupt Selbstorganisierung?

Mögliche Antworten.

„The master’s tools will never dismantle the master’s house.“2

Wir glauben nicht, dass wir* es schaffen ein selbstverwaltetes Zentrum als Teil einer radikalen Bewegung aufzubauen wenn wir* auf dem Weg dahin patriar­cha­le, individualistische und hie­rar­chi­sche Strukturen reproduzieren. „Erfolg“ bemisst sich nicht allein an der Kate­go­rie „Haus haben oder nicht haben“. Ja, wir wollen auch ein Haus, aber nicht um jeden Preis.

Wir halten es für notwendig, das Ver­gang­ene zu reflektieren, und die Struk­tur einer weiteren Besetzung noch ein­mal zu überdenken. Aber wir wollen die Selbstorganisierung nicht generell über den Haufen werfen. Wir finden, dass die Selbst­organisierung in der Vorbereitung der Aktion ausgeweitet werden kann und sich dadurch mehr Menschen in Bezugsgruppen beteiligen können. So würde zum Beispiel das Ausarbeiten einer Strategie im Vorfeld passieren. Direkt vor Ort könnte diese Strategie transparent gemacht werden und hinzu­kommende Menschen können sich ent­scheiden, ob sie das Vorgehen un­ter­stützen möchten oder nicht. Vor Ort können sich Menschen inhaltlich mit der Idee eines selbstverwalteten Zentrums aus­einandersetzen und die Selbst­orga­ni­sierung dort besprechen und planen. Wir können versuchen während der Beset­zung kollektive Räume zu schaffen um das gemeinsam kämpfen zu lernen.
Und ja, allein durch Selbstorganisierung ist kein Haus zu bekommen – Ohne diese jedoch wollen wir kein Haus.

Und zum Ende kommend: Wir sind über­zeugt davon, dass es für eine spä­tere Organisierung im selbstveralteten Zent­rum von Vorteil ist, wenn Selbst­organisierung und Offenheit für viele Menschen von Beginn an ein Teil des Pro­zesses zum Haus hin sind. Denn für unser „selbstverwaltetes Zentrum“ wün­schen wir uns dasselbe, wie auf den Weg dahin: Selbstorganisiert, Autonom, Herrschaftskritisch.

Solidarische Grüße
zwei Menschen von Wolja

 

(1) Das Wir* mit Sternchen steht für „uns als linke Szene in Jena“.

(2) „Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen“ – Audre Lorde: Schwarze Feministin, Lesbe, Poetin und Kämpferin.