von Jens
Kaum ein anderer Begriff ist wie jener der Freiheit mit derart unterschiedlichen Vorstellungen aufgeladen. Zusammen mit „Gerechtigkeit“ und „Frieden“ findet er in jeder Weltanschauung und Ideologie Verwendung. So leben wir unter der Herrschaft einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, die bis 1990 Teil der sogenannten „freien Welt“, demokratisch-kapitalistischer Staaten in Abgrenzung zum Ostblock war. Der Begriff ist somit fester Bestandteil der mehr oder weniger demokratischen Gesellschaftsformen, die nach der bürgerlichen Französischen Revolution entstanden sind. Demnach ist er verknüpft mit der Vorstellung, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln seien und als Individuen persönliche Rechte und Pflichten hätten, die ihnen staatlich garantiert werden müssten. In den sogenannten westlichen Ländern bildet der Freiheitsbegriff einen wesentlichen ideologischen Grundpfeiler, der kein Stück angekratzt werden darf. Um das zu gewährleisten müssen Menschengruppen in ihrer Freiheit beschnitten werden, weil sie sonst die Freiheit anderer gefährden würden. Im Namen der Freiheit wurden und werden Kriege geführt, um die globale wirtschaftliche und politische Vormachtstellung hoch industrialisierter Länder gegen andere durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Mit der Freiheit als Slogan formierten sich immer wieder „nationale Befreiungsbewegungen“, die auf ganz unterschiedliche Weise versuchten, gegen die Herrschaft „fremder“ Mächte anzukämpfen, um souveräne Staaten gründen zu können. In Staaten, welche sich zunehmend autoritär entwickeln, wie in der Türkei, stellt die Einschränkung der Presse-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit von Menschen einen entscheidenden Indikator für die Abschaffung demokratischer Herrschaftselemente dar. Im Grunde genommen wollen das auch die Rechtspopulist_innen der europäischen Länder, welche sich die Freiheit groß auf ihre Fahnen schreiben. Und selbstverständlich können wir kaum anders, als bei Freiheit immer daran zu denken, dass sie durch unsere Konsummöglichkeiten zum Ausdruck kommen würde. Der verdiente Urlaub, die Freiheit zu telefonieren und im Internet zu surfen, das Gefühl, das uns mit einem schnellen Auto, einem neuen Deospray, oder einem leichten Kleidungsstück versprochen wird – dies und vieles andere wird in der Werbung mit dem Wort „Freiheit“ versehen, welche uns das jeweilige Produkt ermöglichen würde. Darin spiegelt sich die liberale Vorstellung von Freiheit wider, welche sich im Privaten verwirklichen lassen würde. Leute knechten sich auf der Arbeit, um dann ihre „Freizeit“ zu genießen, unterwerfen sich dem Staat wo es „sein muss“, um sonst Ruhe vor ihm zu haben und dürfen gerne ihre eigenen sexuellen Orientierungen oder politischen Ansichten haben, solange sie damit nicht andere belästigen. Das Leben wird hierbei in getrennte Bereiche zerlegt, sodass mensch froh sein kann, dass eine_r noch ein bisschen Freiheit bleibt.
Insofern bezeichnet Freiheit eigentlich alles, darum im Grunde genommen aber nichts. Da es sich um einen politischen Begriff handelt, ist dieser umkämpft und hat keinen Gehalt aus sich selbst heraus. Menschen denken in Begriffen, was zur Folge hat, dass ein Teil von Politik darin besteht, auf ihre Bildung und Interpretation Einfluss zu nehmen. Irgendwelche Definitionen und Verständnisse sind aber nur Oberflächenerscheinungen der konkreten Lebenssituationen und Verhältnisse, in denen Menschen leben. Starke Worte sind erstmal stark, verpuffen aber meistens, wenn sie sich als hohle Phrasen entpuppen, das heißt, wenn sie nicht an bestimmten Orten und durch bestimmbare Gruppen von Menschen tatsächlich auch gelebt werden.
Selbst wer keine Ahnung vom Anarchismus als Bewegung hat, wird ihn mit dem Streben nach „Freiheit“ assoziieren. Und zwar oftmals auf jene Weise, dass Anarchist_innen sich Freiheiten anmaßen würden, die dann jene von anderen Menschen einschränken würden, was somit zu verbieten wäre. Der erste Teil dieser Aussage ist auch tatsächlich richtig, denn Anarchist_innen geben sich nicht mit der gewährten Freiheit zufrieden, sondern wollen davon immer mehr haben. Allerdings wollen sie gleichzeitig eine andere Freiheit haben, als jene, die staatlich verordnet, mit Waffen „verteidigt“, durch Lohnarbeit erarbeitet oder durch Konsum erfahren werden kann. Entscheidend ist für sie, dass die eigene Freiheit eben nicht jene anderer Menschen einschränkt, sondern umgekehrt nur mit ihnen gemeinsam verwirklicht werden kann. Michael Bakunin, ein bedeutender anarchistischer Denker und Aktivist, schrieb deswegen: „Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn allen Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.“ Freiheit ist im anarchistischen Sinne also nichts, was einzelne Menschen jeweils für sich besitzen und absichern können. Stattdessen stellt sie eine soziale Beziehung zwischen ganz unterschiedlichen, aber dennoch gleichberechtigten Menschen dar, die zusammen kommen, um ihre Angelegenheiten gemeinsam zu regeln und ihre Lebensbedingungen kollektiv zu gestalten. Weil einzelne Personen individuell nicht mehr oder weniger Freiheit haben können, wenn andere unfrei sind, ist sie mit dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen verknüpft. Diese Gleichheit ist aber nicht die staatlich verordnete Gleichmacherei, wie in den sozialistischen Staaten, sondern geht selbstverständlich davon aus, dass Menschen sehr verschieden sind und auch sein dürfen. Allerdings kämpfen unter anderem Anarchist_innen dafür, dass die Bedingungen zu Lebensgestaltung, der Zugang zu Ressourcen und die Verfügung über sie, für alle Menschen gleich sein sollen, gerade damit sie sich als jeweils besondere Einzelne voll entfalten können.
Von dieser Zielvorstellung ist die heutige Gesellschaft noch sehr weit entfernt. Menschen befinden sich in denkbar ungleichen Lagen, haben ungleiche Ausgangsbedingungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten, an denen sie vereinzelt nichts Grundsätzliches ändern können. Nichtsdestotrotz geschieht es alltäglich und an vielen Orten, dass Leute sich gegenseitig bei allen möglichen Sachen unterstützen. Das tun sie sogar, wenn sie gar nicht miteinander befreundet, verwandt oder an den selben Orten, sondern über gemeinsame Vorstellungen von der Welt und vom Leben miteinander verbunden sind. Wenn sie merken, dass die Probleme und Kämpfe von anderen Gruppen auch mit ihrer eigenen Situation zu tun haben – auch wenn es teilweise andere sind – kann von einem Gefühl oder einer Haltung der Solidarität gesprochen werden. Solidarität zeigt sich weniger daran, Menschen zu unterstützen, die im eigenen direkten Umfeld sind und bei denen mensch darauf spekulieren kann, in einer anderen Situation ebenfalls Hilfe zu erhalten, sondern umso mehr, wenn sie entfernten und von uns getrennten Personen gilt. Sie bedeutet nicht, anderen in Formen von Wohltätigkeit zu helfen und damit die Ungleichheiten aufrecht zu erhalten und zu verfestigen, sondern die Ungleichheiten und Trennungen gerade zu überbrücken und einzureißen.
Freiheit ist nach anarchistischen Verständnissen unmittelbar mit dem Streben nach Gleichheit im Sinne gleicher Voraussetzungen und Bedingungen und der Erfahrung der Solidarität verknüpft. Um das deutlich zu machen, wird deswegen von „sozialer Freiheit“ gesprochen und als Gegenbegriff zu allen Formen von Herrschaft gesetzt. Niemand kann demnach als Einzelne_r für sich oder andere Freiheit verwirklichen. Als soziales Verhältnis kann diese immer nur gemeinsam erkämpft werden – und zwar in den jeweiligen Situationen und unter Bedingungen, Möglichkeiten, mit den Erfahrungen und weitern Umständen mit denen Menschen umgehen müssen. Dies bedeutet dann aber auch, die Gesellschaft grundsätzlich verändern zu wollen. Spezifisch anarchistische Herangehensweisen bestehen darin, mit der Gesellschaftsveränderung unmittelbar anzufangen. Das scheint möglich, weil die Grade und die Arten von Freiheit oder Herrschaft an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten variieren und, somit angenommen wird, dass es konkrete Unterschiede gibt und Veränderungen erzielt werden können. Freiheit besteht nicht in irgendwelchen Gesetzespapieren oder abstrakten Gedanken, sondern wird konkret im Zusammenleben gesehen und begriffen. Auf dieser Grundlage kann je nach Situationen und Bedingungen gemeinsam darüber befunden werden, für welche konkreten Veränderungen es sich zu kämpfen lohnt. Erich Mühsam bringt diese Gedanken gut auf den Punkt, wenn er schreibt: „Freiheit ist der Inbegriff allen anarchistischen Denkens und Wollens. […] Freiheit ist indessen nichts, was gewährt werden kann. Freiheit wird genommen und gelebt. Auch ist Freiheit keine Summe von Freiheiten, sondern die alle Lebensumstände umfassende Einheit der von jeder Obrigkeit und jeder Autorität gelösten Ordnung der Dinge. Es gibt keine Freiheit der Gesellschaft, wenn die Menschen in Unfreiheit leben. Es gibt keine Freiheit der Menschen, wenn die Gesellschaft unfrei, zentralistisch, staatlich, machtmäßig organisiert ist. Die Freiheit der Anarchie ist die freie Verbündung freier Menschen zu einer freien Gesellschaft. Frei ist der Mensch, welcher freiwillig handelt, der alles, was er tut, aus der eigenen Einsicht in die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit seiner Tat verrichtet.“
Das klingt erstmal ganz gut, aber natürlich geht die Diskussion darum, was ein anarchistisches Verständnis von Freiheit ist, im Grunde genommen gerade erst los. Schließlich sind Menschen nicht einfach aus sich heraus frei und werden nur „von außen“ eingeschränkt, sondern stellen immer Ergebnisse der Gesellschaft dar, in der sie leben und sind mit ihr verwoben. Deswegen entsteht einerseits ein Drang, aus der jeweiligen Gesellschaft heraus zu streben, irgendwie auszusteigen und alternativ leben zu wollen. Andererseits sind manche Gruppen gesellschaftlich tatsächlich nur teilweise oder gar nicht integriert, was für sie ebenfalls eine beschissene Lage ist, da sie dadurch einfacher und direkter ausgebeutet und unterdrückt werden können. Wenn Menschen Verhältnisse der sozialen Freiheit einrichten wollen, wie sie oben beschrieben wurden, stellt sich darum die Frage, wie die Gesellschaft dafür verändert werden muss.
Das bedeutet zunächst, auf Distanz zum Bestehenden zu gehen, es zu kritisieren und festzustellen, dass durch kapitalistische Staaten keine Freiheit, die wir meinen, möglich wird. Es können tatsächlich „mehr Freiheiten für mehr Menschen“ in diesen Herrschaftsverhältnissen erkämpft werden, auch wenn wir uns derzeit in einer deutlich reaktionären Phase befinden. Dies sollte aber nicht zur Annahme führen, dass innerhalb der bestehenden Unordnung soziale Freiheit im umfassenden Sinne verwirklicht werden könnte. Dafür braucht es ganz andere gesellschaftliche Verhältnisse. Wie jene aber erreicht werden können, ist eine weitere offene Frage. Für Anarchist_innen war immer klar, dass Freiheit nur durch Freiheit verwirklicht und nicht oktroyiert werden kann. Soziale Freiheit stellt einen fortwährenden und nicht abschließbaren Prozess dar, der nicht funktioniert, wenn er aufgezwungen wird, sondern nur, wenn Menschen ihn aus freien Stücken mitvollziehen wollen. Wie die Einrichtung der sozialen Freiheit aber gelingen soll, wenn sich Herrschaftsinteressen und die Menschen, die sie vertreten, von ihnen profitieren oder an sie glauben, gegen diese stellen, muss an einer anderen Stelle weitergedacht werden…