von der AIBJ-Redaktion
Aus zwei Gründen wollen wir in dieser Ausgabe ein eigentlich bekanntes Kapitel Jenaer Bewegungsgeschichte ansprechen, den Tod von Matthias Domaschk. Erstens ist sich seine Geschichte fast ausschließlich vom demokratisch und antikommunistischen Establishment angeeignet worden und das, obwohl Matthias Domaschk selbst durchaus anarchistische Ideen vertrat. Und zweitens ist er trotz der ganzen etablierten Gedenkpolitik gerade bei den Jüngeren oder Zugezogenen in der Szene total unbekannt.
Die Vereinnahmung von Matthias Domaschk durch das Establishment
Matthias Domaschk ist nach der Wende zu einem Bezugspunkt des heutigen Establishments geworden. Das liegt zum einen daran, dass der größte Teil der damaligen DDR-Oppositionsszene in den neuen BRD-Staatsapparaten aufgegangen ist. Die nach Matthias Domaschk benannten Bewegungsarchive in Berlin und Jena z.B. waren nach 1989 aus der Oppositionsszene heraus gegründet worden, in Jena von der Gruppe „Künstler für Andere“ und in Berlin von der anarchistischen „Umweltbibliothek“, haben aber in den Folgejahren die Förderung staatlicher Apparate und Stiftungen und eine staatstreue Linie angenommen. Zum anderen liegt das auch daran, dass es für andere Staatsvertreter_innen, die selbst nicht aus der DDR-Opposition stammen, attraktiv ist, den BRD-Staat über die Opposition gegen die DDR und die sogenannten „Opfer des Stalinismus“ zu legitimieren. So gibt es heute an der Uni Jena den Matthias-Domaschk-Hörsaal, in Lobeda die Matthias-Domaschk-Straße usw. In der radikalen Szene gibt es dagegen kaum Bezüge zu ihm, was schade ist, hat es ihn und auch seinen Kumpel Peter Rösch eher in die anarchistische Ecke gezogen.
Die Jenaer Oppositionsszene der 70er
Domaschk war in der zweiten Hälfte der 70er Jahre in der Jenaer DDR-Oppositionsszene aktiv geworden. Jena galt damals als eine Hochburg der DDR-Opposition. Ab 1971 bauten der Theologie-Student Uwe Koch und Jugenddiakon Thomas Auerbach in der Jungen Gemeinde (JG) Stadtmitte Jena eine Offene Arbeit (OA) auf. In ihr konnten sich unangepasste und rebellische Jugendliche treffen, ihre eigene Musik spielen und relativ ungezwungen miteinander rumhängen und diskutieren. Das klingt heute nicht nach sonderlich viel, war aber angesichts eines ziemlich hohen alltäglichen Repressionsniveaus und Konformitätsdrucks eine ganz schöne Errungenschaft. 1973 gründete Lutz Rathenow gemeinsam mit Udo Scheer, Sigfried Reiprich, Bernd Markowski und Wolfgang Hinkeldey den Arbeitskreis Literatur und Lyrik. Der Arbeitskreis traf sich im Kulturhaus Jena-Neulobeda, gab Jugendlichen die Möglichkeit, vergleichsweise frei miteinander zu diskutieren und Texte zu schreiben und arbeitete mit dem bekannten Dissidenten Jürgen Fuchs zusammen. Das war im Rahmen einer kurzen Liberalisierungsphase in der DDR-Kulturpolitik nach dem VIII. Parteitag der SED möglich geworden, sollte aber nicht lang andauern. Außerdem kam der Star-Dissident Wolf Biermann öfter nach Jena, weil seine Freundin Sibylle Havemann, Tochter der bekannten Oppositionellen Robert Havemann, hier studierte. Im Großen und Ganzen handelte es sich mit dieser Oppositionsszene um eine damals noch reformsozialistische und antidiktatoriale Bewegung. Während der Wende änderten Viele ihre Meinung und gingen von nun an verschiedene Wege. Während die Einen als Demokraten in den Staatsdienst der BRD überwechselten oder sich in der staatlich geförderten „Zivilgesellschaft“ engagierten, entwickelten sich die Anderen zu konservativen bis faschistischen Schweinen. Nur Wenige wie Matthias Domaschk und sein Kumpel Peter Rösch, genannt „Blase“, vertraten noch zu DDR-Zeiten antiautoritäre oder anarchistische Ideen.
Matthias „Matz“ Domaschk
Matthias Domaschk, genannt „Matz“, wurde 1957 in Görlitz geboren und zog 1970 mit seiner Familie in die DDR-Boomtown Jena. 1972 kam er im Alter von 15 in die Junge Gemeinde (JG) der Kirche Jena-Altlobeda, später fand er zur JG Stadtmitte Jena und stieß zur Gegenkulturbewegung, den Langhaarigen und Kunden, die gemeinsam zu Rockkonzerten trampten und einen Verweigerer- und Aussteiger-Lebensstil pflegten. 1975 zog er aus dem Elternhaus aus und begann mit seiner damaligen Partnerin Renate Groß (später Ellmenreich) in einer WG zusammenzuwohnen. Das selbstbestimmte Zusammenleben außerhalb des familiären Rahmens war damals in der DDR eine noch ziemlich ungewöhnliche Wohn- und Lebensform. Er begann eine Berufsausbildung zum Feinmechaniker mit Abitur.
Um 1975 kam Domaschk in Kontakt mit dem bereits erwähnten oppositionellen Arbeitskreis Literatur und Lyrik. Außerdem begannen er und seine Freund_innen in seiner und Renate Groß’ WG einen Lesekreis. Dort diskutierten sie unter anderem Texte von reform-sozialistischen DDR-Dissidenten wie Wolfgang Biermann, Gerulf Pannach, Rudolf Bahro („Die Alternative“ von 1977) und Robert Havemann („Rückantworten an die Hauptverwaltung ›Ewige Wahrheiten‹“ von 1971), den westdeutschen anti-stalinistischen Kommunisten Wolfgang Leonhard („Die Revolution entlässt ihre Kinder“ von 1955), den demokratischen Sozialisten George Orwell („Farm der Tiere“ von 1945 und „1984“ von 1949) und den sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn („Der Archipel GULAG“ von 1974). Laut Georg Hildebrand und Renate Ellmenreich lasen sie aber auch Werke von Michael Bakunin und Texte über die Pariser Kommune, den Aufstand von Kronstadt, die Münchner Räterepublik und die Spanische Revolution. Domaschk und seine Freund_innen bauten in dem Rahmen auch eine geheime Bibliothek in einem Hinterhaus am Steinweg auf.
Die Biermann-Affäre
Schon 1975 nahm die Repression gegen die Jenaer Szene zu. Eine WG-Feier wurde von Bullen gestürmt und als sich einige Betroffene über Eingaben beschwerten, wurden sie im Schnellverfahren abgeurteilt und für einige Monate eingeknastet. Eine Veranstaltung mit Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Bettina Wegner, die in Bad Köstritz stattfinden sollte, wurde verboten, Jürgen Fuchs exmatrikuliert und der Arbeitskreis Literatur und Lyrik aufgelöst. Mit der Biermann-Affäre sollte der Staat dann einen der größten Schläge gegen die Opposition der 70er wagen. Wolf Biermann wurde während einer West-Tournee bei der IG Metall am 17. November 1976 zwangsausgebürgert. Am 18. November unterschrieben 58 Leute in der JG eine Protest-Resolution von Berliner Schriftsteller_innen. Am nächsten Morgen begann eine Razzia, in deren Verlauf 8 Leute verhaftet und für ein Dreivierteljahr in den Knast gesteckt wurden, 45 Leute teils mehrfach zugeführt und verhört wurden, Hausdurchsuchungen in 15 Wohnungen stattfanden, wobei die geheime Bibliothek mit fast 100 Bänden beschlagnahmt wurde, und gegen Dutzende Leute „Operative Vorgängen“ eingeleitet wurden. Über „Operative Vorgänge“ versuchte die Stasi mittels Abhörung, konspirativen Hausdurchsuchungen, das Streuen von Gerüchten, die Zerstörung ihrer Lebenswege einzelne Oppositioneller zu zermürben. Von den acht Inhaftierten wurden dann 1977 sieben in den Westen abgeschoben. Mit ihnen gingen Angehörige und Freund_innen, sodass insgesamt rund 20 Personen die Jenaer Szene verließen.
Am 20. November wurden auch Domaschk und Renate Groß verhaftet und in die Stasi-Dienststelle Am Anger gebracht. Während sie – damals hochschwanger – nach einigen Stunden entlassen wurde, ging sein Verhör weiter. Da er jegliche Aussage verweigerte, ließ Oberstleutnant Horst Köhler von der MfS-Kreisdienststelle Jena im Nebenraum, wo Renate Groß festgehalten worden war, ein Tonband mit Frauenschreien abspielen. Daraufhin brach Domaschk zusammen und packte aus. Nach seiner Entlassung bekam er ein Bildungsverbot. Er durfte doch kein Abitur machen und fing nun an, als Heizungsinstallateur und Schlosser zu arbeiten.
Die Szene versuchte, trotz alledem weiter zu machen. Domaschk gehörte zu den Wenigen, die die „Jenaer Acht“ während der Zeit ihrer Inhaftierung im Gefängnis in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) unterstützte. Er und Renate Groß fuhren zudem 1977 mit einem Motorrad nach Prag, wo sie den Trotzkisten Petr Uhl und Andere von der Charta 1977 trafen und ein Charte-Dokument über die Repression in Jena und die acht Gefangenen verfassten. Immer wieder verabredeten sie sich mit ihren ausgebürgerten und ausgereisten Freund_innen, v.a. in Polen.
In der Nationalen Volksarmee
Im November 1977 wurde er zur NVA eingezogen. Anders als Peter Rösch kämpfte er nicht darum, als Bausoldat den Dienst an der Waffe verweigern zu dürfen. So wurde er in Torgelow-Spechtsberg an der Ostsee (!) bei den Panzerschützen stationiert und damit bis auf Briefe und seltene Besuche in Jena (drei in den 18 Monaten) von seinem politischen Umfeld und Freundeskreis isoliert. Aus der NVA-Zeit stammen die einzigen erhaltenen Texte von Domaschk, da er wie viele andere Leute, die wussten, dass sie dauerhaft überwacht wurden, aus Sicherheitsgründen fast nichts aufschrieb. Schließlich könnte es jederzeit beschlagnahmt werden.
„[…] was man hier erlebt, ist ungeheuerlich – gruslig. und da man so gut wie nichts machen kann, verzweifelt man dann immer mehr. ich weiß selbst wie sinnlos lächerlich das ist, aber ich möchte manchmal ein maschinengewehr nehmen und voll rein halten.
nun ein erlebnis:
an einem wochenende hatten wir wieder mal wache. herrliches wetter ruhig (ich habe schön gelesen), über nacht kamen dann ne menge leute in den knast (ca. 12) grund: alk u.s.w.
es war sogar noch lustig, die leute haben gesungen bis früh um 2.00 (glory, glory halleluja) und unser wachoffizier hat getobt. es ist nicht schlecht, im knast zu singen.
am nächsten tag sollten die »knaster« dann 200 zentner kohlen umsetzen und dann kam der absolute hammer, die 200 zentner sollten sie mit den bloßen händen wegschaufeln. sie haben sich natürlich geweigert.
die antwort darauf war dann, daß zwei posten mit MPi sie dazu bringen sollten, bloß die posten haben nicht der gleichen getan. es folgten dann noch so einige schweinereien, mir ist regelrecht schlecht geworden vor wut. das ganze gipfelte dann darin, daß ein offizier die pistole zog, in die luft schoß und einen soldaten vor sich her durch den dreck robben ließ.
ekel haft!
Und so was wagt sich noch als vertreter der AK und des soz. zu bezeichnen […]
armee – die beste schule der nazion –
[…] PS.: z.Zt. haben wir übrigens polit bei genau jenem schießwütigen offizier […]“
[Aus einem Brief vom 6. April 1978, übernommen aus Gerold Hildebrands Text aus der Horch-und-Guck-Zeitschrift von 2003. AK meint Arbeiterklasse, soz meint Sozialismus und polit die politische Schulung. „Glory Glory Hallelujah“ stammt aus dem Lied „John Brown’s Body“, einem Freiheitslied der schwarzen Befreiungsbewegung aus der Zeit der Sklavenaufstände während des US-amerikanischen Bürgerkriegs der 1860er, wiederaufgegriffen von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1960er.]
Als er im April 1979 aus der NVA nach Jena zurückkam, ging er wieder arbeiten und unternahm Reisen nach Polen und Tschechien. So erlebte er mit Peter Rösch 1980 den Beginn des Streiks der unabhängigen Solidarnosc-Gewerkschaft in der Gdasnker Werft. Die Umwälzungen in Polen führten in der Jenaer Szene zu Begeisterung. Im Mai 1980 musste seine neue Freundin Kerstin Hertgert für ein Jahr in den Weimarer Knast. Sie war schon 1979 wegen „asozialer Lebensweise“ (eines Paragraphen, den die DDR vom nationalsozialistischen Deutschen Reich übernommen hatte) zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden, hatte wieder zwei Mal den Dienst verpennt und damit gegen die Auflagen verstoßen.
Der Tod von Matthias Domaschk
Der Tod von Matthias Domaschk ist bis heute nicht aufgeklärt. Am 10. April 1981 nehmen er und Peter Rösch den Zug, um zur WG-Einweihung einer Freundin nach Ost-Berlin zu fahren. Vermutlich aufgrund des X. Parteitags der SED, der am nächsten Tag in Ost-Berlin stattfinden sollte, werden die Beiden in Jüterbog von der Transportpolizei aus dem D-Zug geholt und ins Stasi-U-Haft-Gefängnis nach Gera gebracht, wo sie über 13 Stunden lang verhört werden. Rösch wird am 12. April entlassen. Von Domaschk heißt es kurz darauf, er habe sich in seiner Zelle am eigenen Hemd erhängt. Der Tod oder Mord an Matthias Domaschk führte er in der Jenaer Szene zu Empörung. Die Stasi versuchte daraufhin jegliche Aktionen zu unterbinden. So vertuschte sie den Termin der Trauerfeier für Domaschk und schickt zahlreiche Stasi-Beamte zum Nordfriedhof. Dennoch kamen um die 100 Personen. Zum einjährigen Todestag setzten Domaschks Freund_innen zwei Todesannoncen in lokalen Zeitungen und kleben sie an Hauswände.
Die Szene ist vom Tod Domaschks schockiert und traumatisiert. Mauertote und Knast war man gewöhnt, aber dass jemand während eines Stasi-Verhörs draufgeht, hatte man der DDR unter Honecker eigentlich nicht zugetraut. Zahlreiche seiner Freund_innen reisen in den Westen aus, darunter Siegfried Reiprich, Peter Rösch, Renate Groß und Roland Jahn. Erst um 1983 erholt sich die Szene vom Schock. Es bilden sich neue Gruppen wie die Ausreiser-Gruppe „Weißer Kreis“ und die pazifistische „Friedensgemeinschaft Jena“.
Erst nach der Wende kommt es auf Druck seiner Freund_innen zu Ermittlungen im Fall Domaschk. Sie endeten 2000 mit der Verurteilung der Stasi-Offiziere zu geringen Tagessätzen wegen Freiheitsberaubung. Nachdem die ex-Freundin von Domaschk, Renate Ellmenreich, und ihre gemeinsame Tochter Julia 2014 die neue rot-rot-grüne Thüringer Landesregierung aufforderten, endlich für eine ordentliche Aufarbeitung des Falls zu sorgen, wurde Anfang 2015 die Arbeitsgruppe „Tod von Matthias Domaschk“ eingerichtet. Gewissheit für die Angehörigen und Freund_innen ist wichtig, aber letzten Endes macht es keinen großen Unterschied, ob die Stasi-Offiziere Domaschk eigenhändig umgebracht oder ihn durch ein 13 Stunden langes Verhör und psychische Folter zum Selbstmord getrieben haben – es ist und bleibt ein Stasi-Mord auf die eine oder andere Weise.
Fazit
Es wäre schön, den Matthias Domaschk in unserer Szene nicht ganz zu vergessen und ab und zu an ihn zu erinnern. Denn erstens war er jemand, der aufgrund von Ideen, die unseren sehr nahe standen, vom Staat umgebracht wurde. Zweitens zeigt sein Fall auf, wie gewalttätig die „freiheitlich- oder volksdemokratischen“ deutschen Staaten auch nach 1945 gegen Opposition und Widerstand vorgegangen sind und dass die Bullenschweine, egal ob Streife oder Geheimpolizei, ob demokratisch oder sozialistisch, Mörder sind. Und drittens wäre es doch zu bitter, das Gedenken an Domaschk dem BRD-Staat und seiner Zivilgesellschaft zu überlassen – an denselben Staat, in dessen Polizeizellen bis heute Menschen umgebracht werden (denken wir nur an Oury Jalloh und die vielen Anderen) und an dieselbe Zivilgesellschaft, die sich schön von ihm finanzieren lässt, sich ab und zu „empört“ und ansonsten brav bei den staatlichen Verbrechen zuschaut.
Mehr Infos (leider allesamt aus staatstreuen Veröffentlichungen)
Freya Klier: Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand, herausgegeben vom Bürgerbüro Berlin e.V., 2007.
Renate Ellmenreich: Matthias Domaschk. Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzudecken, herausgegeben vom Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemligen DDR, Erfurt, 1996, 2. erw. Auflage 1998.
Georg Hildebrands Text in der Zeitschrift Horch und Guck. Zeitschrift der Gedenkstätte Museum „Runde Ecke“ Leipzig, Sonderheft 1, Themenschwerpunkt Matthias Domaschk, 2003, online: http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2000-2003/sonderheft-1/inh/